Donnerstag, 31. Oktober 2013

Ferienfühlen


Gleich vom letzten Schulklingeln zu einer Kurzreise aufbrechen - sich durch Lüneburgs sonnig-rote Altstadt treiben lassen - Kaffees in Cafés und Rotwein am gedeckten Freundestisch trinken - durch raschelndes Buntlaub wandern - Herbstgewitter und Sonnengold in rasantem Wechsel durchleben - in Lesestunden, Kinderfilmabenden, Gesprächen und dem Sein mit mir selbst versinken ...

Und plötzlich ist da schon der Mitteltag der kurzen Ferienwoche. Abrupt will es innerlich umschwenken: vom guten Gefühl des Dahintreibens in die Enge des Getriebenseins. So viel wollte doch in den Ferientagen erledigt werden. Hinter allen Ecken lugen Aufgaben hervor.
"Man darf es nicht zu etwas Innerem werden lassen, dieses ungenügende Gefühl des Nie-fertig-seins", sagt die Freundin am Telefon.

Und ich weiß, dass ich mich in immer derselben Frage verfange: Wie schaffe ich es unbeeindruckt von den Bergen zu sein? Nicht gelähmt durch die vor mir liegenden, nicht euphorisch bestätigt durch die gerade bewältigten? Wie also in ein Sichtreibenlassen  gelangen, unabhängig von jeder Art Berg, unabhängig von jeder Viel-wenig-Bewertung, hinein in ein waches wahrnehmendes Gleiten?

 Den Blick staunend auf all die Farben richten -


 - jeden Schritt als einen Moment des Raschelns im Laub erleben -


 - und während jeder Schritt zu einem besonderen wird, formt sich ein Weg.


Ferienzeiten sind Übezeiten.

Freitag, 25. Oktober 2013

Ausgeflogen






Morgens in aller Frühe Gepäckberge in Autos gestopft, durch nebelverhangenen Nieselwald gewandert, Waldgesichter erlebt und aufblühende Off-Road-Kinder.




Das Landschulheim (doch noch) gefunden.
Mit-wem-bin-ich-im-Zimmer-Bangen in Luft aufgelöst und mit dem Jubel, weil sich alles gefügt hatte, mitgefreut. Das Mit-wem-sitz-ich-am-Tisch immer wieder neu ausgelost - und wieder mal beobachtet, wie schnell dann plötzlich jeder jeden kennt.




Mit Gummistiefeln im Bach gewatet. (Und danach zuweilen Wasserbäche aus den Stiefeln herausgeschüttet.) Staudämme gebaut, Blätterschiffchen schwimmen lassen.
Über Wildniswege, durch urige Wälder, vorbei an Wildschweinsuhlen und Hochlandrindskälbern gewandert.








Heftige Insektenstiche eingefangen (was fliegt denn jetzt noch rum?). Gestaunt wie cool man tränentreibenden Schmerz weghumpeln kann. Und na klar, die restliche Klasse hatte plötzlich auch Stiche über Stiche :)
Herausgefallene Zähne bewundert, verliersicher verpackt und blutende Wundlöcher tamponiert. (Ähm, Milchzähne natürlich. Das wusste ich auch noch nicht, dass das stundenlang bluten kann.)
Brandblasenpflaster und reihenweise Kühlpads verteilt. Und auch Heimwehpflaster, die einfach irgendwohin auf völlig unversehrte Hautpartien geklebt werden mussten :)
Mit Heimwehtränen mitgeseufzt und sie dann getrocknet, Mütter angerufen. Tolle Kinder, die sich gegenseitig zum Trösten und Beruhigen bei der Hand nahmen. Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, Freundinnen zum Handhalten in ein Bett gepackt, Kuscheltiere rechts und links platziert, Beruhigungslampe von Zimmer zu Zimmer getragen.

Und dann das schon Geahnte: sie halten ungebrochen durch bis nachts um halb zwei. Auch nicht unerwartet: ab morgens um sechs toben sie schon wieder fröhlich munter lärmend durchs Haus. Dass sie dann allerdings am zweiten Abend auch wieder bis halb zwei ... naja. Die eigene (altersbedingte?) Müdigkeit veratmet und tagsüber durch Sekundenschlaf aufzufangen versucht.




Häuser und Hütten im Wald gebaut. Vielfalt an Kreativstatik und -optik bestaunt.
Eier wurfsicher verpackt. Dabei beglückt über so viele Kinder, die ohne Hemmungen mit bloßen Händen in Matscheschlamm greifen, um das Ei bloß bruchsicher einzuhüllen. Überhaupt: so viele Kinder, die sich draußen in Wald und Nieselregen heimisch und glücklich fühlen.
Aus Naturmaterialien Gemälde gestaltet. Verblüfft, wie unterschiedliche Ideen und Gruppendynamiken sichtbar wurden. Auch Positionierungskämpfe. (Nicht nur harmlose, leider. Aber wenigstens wissen wir jetzt darum. Elterngesprächstermine gleich schon abgemacht.)




Gespielt, gespielt, gespielt.
Gelacht, erzählt, getanzt.
Die-Jungs-kommen-immer-in-unser-Zimmer-Gekreische, Wir-müssen-uns-mal-in-ihn-hineinversetzen-Mitfühlen, Als-mein-Opa-gestorben-ist-Gespräche und Meine-Mama-hat-mir-ein-Kuscheltier-eingesteckt-Geständnisse aufgeschnappt.
Wie klein sie noch sind!
Wie groß sie schon sind!





Durch sonnigen Herbstwald zurückgewandert. Müde Kinder kaum zum Schlurfen bewegen können. Und andere kaum von den Waldhängen herunter. Mit Gummibärchen immer weiter und weiter gelockt - bis zur heimischen S-Bahnstation. In der Bahn waren sie so ruhig wie sonst nie in den drei Tagen.
Innige Wiedersehens-Kuschelszenen mit den wartenden Mamas beobachtet.






Wie gut, wieder hier zu sein.
Wie gut, mit ihnen weggewesen zu sein.

Sonntag, 13. Oktober 2013

Montag, 7. Oktober 2013

98einhalb.


"... solche, die zu kennen ein Segen ist. In ihnen ist ein langes Leben still geworden. Arbeit ist getan, Liebe ist gegeben, Leiden ist gelitten worden - aber alles ist noch da, in Antlitz und Hand und Haltung und redet in der alten Stimme. Das haben sie aber selbst verwirklicht: durch die stets neue Annahme dessen, was nicht geändert werden kann; durch die Güte, die weiß, daß die Anderen auch da sind und ihnen das Ihre leichter zu machen sucht; durch die Einsicht, daß Verzeihen mehr ist als Rechthaben, Geduld stärker als Gewalt, und daß die Tiefen des Lebens im Stillen, nicht im Lauten liegen."
(Romano Guardini, in: Die Lebensalter - Ihre ethische und pädagogische Bedeutung)

Heute haben wir ihre Urne unter einen Baum gebettet.

Freitag, 4. Oktober 2013

Farben der Trauer

Dunkel und hell.
Erinnerungswolken kommen geflogen. Weißt-du-noch-Geschichten. Und auch solche, die nur einer von uns kennt. "Die Oma hat doch immer ..." - "Neee, echt? Das weiß ich ja gar nicht ..."
Hier wird gelacht, hier wird geweint.
In Fotos wühlen wir. Und in inneren Bildern.
Warm-wohlige Kindheitserinnerungen. Wenn ich sie erzähle, bin ich plötzlich mittendrin.
Sie fehlt.
Langsamkeit. Betäubung, immer noch. Weit-weg-Gefühl, mal stärker, mal schwächer. Alles in Wellen.
Urwunsch: Sitzen-sinnen-schweigen.
Ja, schweigen. Tage voller Schweigenwollen - und Funktionierenmüssen.
Menschen, die sich sehr zuwenden. Wärme empfangen dürfen. Einen Brief lesen von ihren ehemaligen Schülerinnen, berührend. Mit Freunden einen Abend voller Lachen und Lebenslust erfahren, und zwischendurch minutenlang gemeinsam schweigend ihr Foto anschauen. Begegnungsgeschenke, die glücklich machen. (Und auch Menschen, die sich abwenden. Aber das tut nicht weh. Hilflosigkeit - ich wusste früher ja auch nicht.)
Premiere: Man sagt zu mir "Herzliches Beileid". Ich lerne darauf zu reagieren. Ins Gespräch zu kommen. Gute Gespräche, sehr gute. Wie lieb ich sie habe ...
Sie fehlt.
Die Kinder suchen ihren Weg. Der Sohn steckt die Traueranzeige ganz tief hinten ins Regal - "damit sie nie wegkommt und nie kaputtgeht". Die Tochter zeigt ihre in der Schule überall herum. Und macht klare Ansagen: Welche Dinge sie von der Uroma als Erinnerung behalten möchte. Und welche Lieder gesungen werden sollen, auch welche Strophen, entscheidet sie.
Sie schlafen auf Omas Fernsehsessel, nun, da er hier steht. (Dass man drauf überhaupt die Nacht verbringen kann - selbst wenn man kurz ist?) Die Kinder kuscheln sich hinein. Und beturnen ihn tagsüber. Wir fürchten, dass er binnen 24 Stunden kaputtgeht, wenn sie so weitermachen:)
"Aber ich darf doch heute zum Tischtennis. Das hätte die Uroma doch vielleicht auch gewollt ..." Na klar, so sonnenklar: Sie will uns hier leben sehen. So richtig ganz doll leben sehen. Mit allem was wir lieben und wollen und brauchen, mit allem was uns Freude macht ... (sprachs zu ihren Kindern und hatte die Augen voller Tränen).
Sie fehlt.
Neue Familienkonstellation, neue Leerstelle in der Reihe. Nun bin ich nur noch Tochter und Mutter. Enkelin und Urenkelin nicht mehr. Großmutter und Urgroßmutter noch nicht. Symmetrisch irgendwie. Ein Sandwichplatz in der Mitte der Lebensreihe.
Reihenweise Lebensreisegedanken ...
Sie fehlt.
Doppelte Leerzeichen, Zeilen- und Randabstände, Schriftartsuche - woher soll ich denn wissen, wie man eine Traueranzeige formatiert. Und wie so ein Liedblatt gestaltet sein soll. Das hat mir niemand beigebracht. Und verdammt, warum stellt sich diese Technik so quer - die mp3-Musik will nicht auf die CD, die Druckerpatronen sind leer, der Laptop stürzt ab. Alles sperrt sich dagegen, eine Trauerfeier vorbereiten zu müssen.
Ist ja schon gut, ich werd schon wieder ruhig.
Aber bitte mal ein Stopp für uns. Die Brille für den Sohn, die Blutwerte der Tochter, mein immer noch dicker Zeh liegen brach, Erkältungen seit einer Woche, keine Zeit sich zu kümmern. Soll das wohl so sein, dass wir hier halbblind, halbkrank, humpelnd durch unsere Tage gehen? Fingerzeige unserer Körper.
Zeit wollte ich, nur Zeit. Langsam werden, anhalten, stehenbleiben, bitte.
Sie fehlt.
Staffelstäbe.
Ihre Sanftmut bräuchte ich. Wenn etwas in mir hochpulsiert: was hätte sie jetzt getan, was hätte sie gesagt, wie hätte sie es getragen? Ich möchte in der Zeit zurückreisen und noch einmal neben ihr stehen. Dabei sein, wie sie so war wie sie war. Genau hinschauen. Aber vielleicht ... habe ich ja genug gesehen. Bleibt als innerer Auftrag stehen, ihr Wesen weiter zu leben, irgendwie. Ob das geht? Ein weiter Weg, jedenfalls.
Und noch ein Staffelstab. Das Lebkuchenrezept ist wieder aufgetaucht. Omas legendäre Lebkuchen. Riesenkistenweise in Görlitz gebacken und zu uns nach Berlin geschickt. Von den Eltern in großen Tontöpfen im Schrank versteckt. Nicht gut genug versteckt - jeden Tag nach der Schule einen draus genascht - jetzt darf ich's ja verraten:) Also: das Rezept ist wieder aufgetaucht. Dieses Jahr im Advent ... ich freu mich drauf. Vermutlich werde ich ein paar Jahre üben, bis sie gelingen wie sie bei ihr waren.
Sie fehlt.
Die Strickjacke die ich trug, und das Tuch, in welches ich geweint habe, als ich vor zwei Wochen Abschied nahm, habe ich seither nicht abgelegt. Es ist warm darinnen. Na gut, die Strickjacke ist schon gewaschen zwischendurch. Aber das Tuch - mein Hals will in diesem Winter kein anderes. Ob und wann ich meine Tränen auswaschen werde ...
Sie fehlt.