Sonntag, 23. Mai 2010

Gen Süden - wie nach Hause kommen :)

Am nächsten Morgen verabschieden wir uns von der Zwischenstation und machen uns auf den kurzen Restweg.



Das fühlt sich an wie nach Hause fahren: in das kleine Landgut am See in der Nähe von Rom. Vor zwei Jahren waren wir einmal dort, der Sohn erkennt es noch wieder und zappelt vor Freude, und wir werden von den jungen Wirtsleuten wie alte Bekannte begrüßt (sowie zum Mittagessen eingeladen!).

Die Kinder können es kaum erwarten, baden zu gehen, müssen geduldigst ausharren, bis wir gegessen, geschwätzt, die Badesachen herausgesucht, das Strandrucksäckchen gepackt, uns alle eingecremt haben - das erscheint ihnen ewig.

Und dann ...



... ist das Zögern groß und der Mut klein ...



... bis sie es wagen. (Kurz darauf ist er drin.)



Die Schwester bleibt an dem Tag lieber bei uns im Trockenen. Denn: unter italienischem Sommer stellt man sich etwas anders vor :)
Bis gestern hat es hier geregnet, sagt man uns. Immerhin: die Sonne ist stark, so dass wir den Schatten eines Strohdachs zu würdigen wissen. Gerade richtig, um die ersten Lesestunden zu genießen.



Und abends in die geliebte Pizzeria im kleinen Städtchen. Sie ist uns so sehr vertraut, dass wir im ersten Moment sogar empört sind, dass "unser" Tisch besetzt ist :)

Samstag, 22. Mai 2010

Ankommen im Feriensein

Die Fahrt am Freitag nach der Schule ist wie immer lang. Das erste Ziel für den Abend heißt Bologna. Wir kommen gut durch, besser als sonst, die Kinder sind geduldiger als sonst, schlafen zwischendurch, und wenigstens der Große teilt unser Italien-Wohlsein-Gefühl: "Immer wenn ich jemanden italienisch sprechen höre, bekomme ich so ein warmes Gefühl im Bauch ...". Jaaaaa - das geht uns auch so. Kaum betreten wir dieses Land, werden wir alle milder gestimmt.
Ich bin in Vorfreude wie selten, aus der Erschöpfung der letzten Wochen heraus geboren. Ab und zu durchwehen mich noch Schulgedankenfäden - klar, bin ja von der Tafel ins Auto gesprungen. Ansonsten wird mir die Fahrt kurzweilig mit der neuen Kamera und ihrer dicken Gebrauchsanweisung.
Wie immer fährt der Mann, unermüdlich wie ein Steh-auf-Männchen.
Und wie immer besteht der erste echte Urlaubsakt nach Ankunft im Pizzaessengehen. Löst immer das wunderbarste Gefühl aus - auch wenn wir halb schlafend um kurz vor Mitternacht vor unseren Pizzen und Vini bianchi sitzen.

Morgens begrüßt mich beim Blick aus dem kleinen Fenster im Bad dieses goldweiche Licht. Mild, passend zum wohligen Gefühl auf der Hinfahrt.



Fast schon unwirklich ... so wie die Wärme, die mich umwirft, als ich das Haus verlasse.



Das Kleidungssortiment im Tagesgespäck muss sich im Laufe der ersten Tage immer erst anpassen. Kann mich nur langsam daran gewöhnen, für die Kinder keine Polarausrüstung einstecken zu müssen :-)

Wir wollen den Tag einfach so "verschlendern", ruhig ankommen im Urlaubsgefühl.

In bukolischen Landschaften ...



... und mit Blicken wie diesem:



Ha - geschummelt! Das ist nämlich ein sehr sorgfältig gewählter Ausschnitt während des ersten Eisessens. Die Kinder konnten es nicht länger erwarten, und so ließen wir uns mitten an der Straße zum Gelato überreden.
In Wirklichkeit sah es dort nämlich so aus:



Aber was heißt schon Wirklichkeit? - Ist sie das Ganze oder der Ausschnitt, den ich mir suche, um mich im Sein einzurichten? Kann ich Dinge ausblenden, mir meine eigene Weltsicht wählen, oder ist immer alles dabei, egal wie ich schaue???

***

Am Nachmittag wagen wir einen Stadtspaziergang, in der wunderbaren Stadt mit ihren schiefen Türmen. Nun, zugegeben - das ist nicht die geeignetste Form, Ferien mit Kindern zu verbringen, aber ganz aussparen wollen wir die Städte auch nicht.
Es ist anstrengend: zappelnd-freudige Kinder und rasend-schnelle Vespas in den Gassen ist jedenfalls für mich nicht gerade erholsam :(







Und für die Kinder auch erschöpfend, wie man hier sieht :)



Wir schlendern noch ein wenig weiter, übertreiben das Sightseeing nicht, und begeben uns bald wieder vor die Tore der Stadt zurück.









Zunächst Weitblicke in die Landschaft aufsaugen - ich könnte dort stundenlang stehen und schauen ...



... und dann uns niederlassen in einem uns bekannten, geliebten Restaurant mit dem Namen "Kirschgarten", draußen auf dem Land. Da ist es gut sein ...





(In der ersten-Tags-Gier landen beim Essenbestellen wie schon so oft viel zu viele Dinge auf unserem Tisch ;-) Im Laufe des Urlaubs werden wir darin besser - am Anfang drückt sich darin offenbar immer unsere monatelang ungestillte Italiensehnsucht aus.)

Donnerstag, 20. Mai 2010

Und morgen sind wir weg ...

Sind dann bald an diesem kleinen See, mit hoffentlich leuchtend-wärmender Sonne ...



... werden auf ausdrücklichen Wunsch unserer kleinen Touristen wieder diese Orte aufsuchen (sogar mit den gleichen Büchern ausgestattet ;-)) ...





... werden vielleicht solche Schritte gehen ...



... und - wenn schon nicht unsere Füße (es war und ist kalt dort, auch dort!) - so doch unsere Augen versinken lassen in diesen Wassern ...




... werden Weite erfahren dürfen ...




... bei strahlendem Wetter ...



... oder auch an trüben Tagen ...




... in jedem Fall: Es wird eine Zeit mit allen Farben.



Wir werden dieses genießen ...



... und jenes ...



... und das ausgiebige Schlafen.



Wir werden auf vielfältige Weise Bilder und Eindrücke sammeln ...



... und werden das, was wir zu Hause lassen müssen, im Herzen (oder in Ersatzform ;-)) mit uns tragen.



Diese Bilder stammen von verschiedenen Italienreisen. Es werden nicht genau die gleichen Orte sein, die wir diesmal aufsuchen. Lediglich der kleine See in der Nähe von Rom, der ist uns bekannt und vertraut und liebgewonnen. Dort werden wir die erste Woche verbringen. In der zweiten Woche werden wir neue Orte erleben: in der südlichen Toskana, und in der Nähe des Gardasees.
Und in zwei Wochen kehren wir zurück.

Uns allen wünsche ich eine gute Zeit - bei äußeren Reisen, oder bei inneren, oder auch beim Sein in der Stille ...

Auf Wiederlesen ;-)

Geburtstagsbilder

Für die Ideenbringerin dieses Kuchens (;-))- und für alle, die es sonst noch anschauen mögen.
(Und ein bisschen auch für mich - so kann ich hier mal drei Minütchen sitzen, bevor ich weiter durch's Haus wirbeln muss.)





"Die Mama und den Papa ...

... und die Schwester, die will ich mitnehmen, ohne die will ich nicht in den Urlaub fahren."
Antwortet mir der Sohn eben auf die Frage, welche Bücher und Spiele wir denn mitnehmen wollen.
Klar, als Spielzeug sind wir gut geeignet. Und in uns lesen kann man allemal ;-)

Oh je

Nein, ich möchte nicht jammern. Es ist gut, in den Urlaub zu fahren. Sehr gut sogar!
Nur: wenn ich vor meinem inneren Auge aufliste, was davor noch alles zu tun ist - für den Urlaub und für meinen Nachmittagsunterricht und für den morgigen Schultag und im normalen Tagesgeschäft - und wenn ich daran denke, dass ich genau in 24 Stunden schon längst vor der Klasse stehe, 6 Stunden am Stück halte und wir direkt vom Schulklingeln ins Auto springen wollen - upps, dann wird das ganz schön knapp. Jedenfalls wenn ich in den 24 Stunden auch noch ein Mützchen Schlaf abfassen will.
Zudem springt im Hintergrund der fiebrige Sohn herum. Mein freier Vormittag ist also nicht ganz frei. - Ob das Klaviervorspiel abends ausfällt, werden wir gegen Mittag entscheiden. Das wäre schade, aber eine Zeitersparnis, die ich heute gut zu nutzen wüsste ...

Auf geht's:
dunkle Wäsche, Garten reisefertig aufräumen, Kinderklamottentasche fertigpacken, Klassenarbeit fertigstellen, bügeln, Unterricht für morgen fertig machen, Einkaufsliste für Drogeriemarkt schreiben, zwei Briefe fertigmachen ... das wäre jetzt der geplante Vormittag.
Wie gesagt: auf geht's.

Mittwoch, 19. Mai 2010

Erstmals ...

… als Vierjährige aufgewacht, strahlt man nicht nur mit der Sonne um die Wette, nein, dann fällt einem auch gleich etwas Wichtiges ein: „Und jetzt gehöre ich zu den ‚Mittleren‘.“ (Anm. d. Red. Gruppeneinteilung im Kindergarten).
Um gleich hinterherzuschieben: „Und wenn ich sechs bin, komme ich in die Schule.“
Immer mit der Ruhe, ruft mein Mutterherz.
Doch Du wirst es schon richtig machen, wirst Deine Schritte gehen - mit der unglaublichen Ruhe, die Du in Dir trägst, und mit der Dir eigenen Ungeduld.

Beides zusammen - wie das geht?

Na so, wie Du schon auf die Welt gekommen bist.

Erst uns tagelang, ja wochenlang warten lassen. Selbst am Morgen in der Klinik haben wir noch ahnungslos Zeitung gelesen, über dies und das geplaudert, und was wir am Nachmittag machen wollen. Während ich am Tropf hing und man schauen wollte, ob es Dir noch gut gehe da drinnen. Du ruhtest – und ruhtest – und ruhtest. Gabest keinen Laut von Dir – ziemlich genau bis zum Mittagsschichtwechsel. Das weiß ich genau, es war nämlich keine Hebamme verfügbar, als Du mich plötzlich überrumpeltest, mit unvermittelter Wucht.
Ja, einmal entschieden, legtest Du eine atemberaubende Entschlossenheit vor. Einfach war das nicht, dieses Tempo mitzuhalten, aber dafür brauchten wir kaum zwei Stunden ;-)
So schnell, so unerwartet schnell durfte ich Dich in den Armen halten.





Ruhe und Ungeduld - wie Du es seither immer lebst.

Du konntest mit wenigen Monaten, als ich bereits wieder arbeiten ging, 9 Stunden ohne meine Milch aushalten. Flasche oder sonst irgendein Schummelgefäß mit Abgepumptem? – Nein, das kam nicht in Frage, darin warst Du konsequent. Du wolltest aushalten – und so hieltest Du aus. Ohne Quengeln, ohne Unruhe. 9 Stunden! (Alle staunten.)
War ich aber erstmal wieder da: ich glaube, nach etwa 3 Mikrosekunden zeigtest Du allen im Haus (und auf der Straße ;-)), was Dein Stimmchen an Dezibels vollbringen kann.

Obwohl Du also Tag und Nacht auf mich angewiesen warst, hattest Du die Ruhe weg mit Deiner Bereitschaft, andere Kost zu Dir zu nehmen. Meine Geduld war lang nicht so groß. Ich versuchte es nach 7 Monaten, nach 9, dann nach 11 … ich kaufte die Gläschensortimente aller Hersteller leer, Selbstgekochtes, Obst, Gemüse, Milchbreie. Bunte Löffel, Fingerfood, gab Dir von meinem Teller - was ich nicht alles probiert habe. Du warst aber auch einfallsreich: ausspucken, rauslaufen lassen, Mund gar nicht erst öffnen, so tun als ob … und das alles, ohne die Miene zu verziehen. Na, ich hätte doch schon wissen können, dass Du eben noch abwartest.
Dann aber in Italien, Du warst 13 Monate alt, von einem Tag auf den anderen: Bruschette, Pasta, Pizza – da gab es kein Halten mehr. Innerhalb weniger Stunden hattest Du Dich von Muttermilch auf unsere Kost umgestellt ;-)

Und das Sprechen. Oh Tochter, ich weiß nicht, wie viele Logopäden Dich in Deinem jungen Leben schon haben kennenlernen dürfen. Fast möchte ich mich bei Dir entschuldigen dafür. Doch Du hattest offenbar immer Spaß, als diese versuchten herauszufinden, warum Du Dich nicht in unserer Sprache äußerst. Nun, Du plaudertest ungerührt weiter in Deiner eigenen kleinen Geheimsprache, wiederholtest geduldigst, was zu sagen war, notfalls zehnmal, warst auch nicht ungehalten, dass Dich dann immer noch keiner verstand. Ich gebe zu, ich war manchmal beunruhigt.
Dabei hätte ich Dich doch nun längst kennen müssen. Und vertrauen können: Eines Tages, es ist noch gar nicht so lange her, war sie – schwupp – plötzlich da, die deutsche Sprache. Und nun wünschen wir uns manchmal einen Ausschalter ;-)

Es gäben noch so viele Situationen zu erzählen …

Ja, Töchterchen, diese Dir eigene Mischung aus Ungeduld und Ruhe, möge diese Dir erhalten bleiben:
Möge immer genug Ungeduld in Dir sein, um Dich an die Orte Deiner Sehnsucht zu bringen, wo auch immer die sein werden.
Und möge Dich dabei stets die nötige Ruhe leiten, um den allerallerwichtigsten Ort nicht zu verlieren: den innersten Kern ganz tief in Dir!

Hach, wie sollte ich denn jetzt in wenigen Sätzen ausdrücken, was ich Dir noch alles sagen möchte? Vielleicht so:
Dem Seufzer, der Deinem Bruder einst bei Deinem Anblick entfuhr: „Ich hab die Schwester soooo lieb, ich möchte ohne die Schwester gar nicht mehr leben.“, dem schließe ich mich einfach nur an.
Ich weiß schon nicht mehr, wie es ohne Dich war.

So, und nun werden wir Dich feiern.
Das heißt: Du lässt Dich zur Stunde im Kindergarten feiern, und ich sitze gerade in der Schule. Gleich fängt meine Pflichtfortbildung an, und die dauert bis zum Abend. Ganz heimlich aber werde ich mich nachmittags wegschleichen, das, finde ich, sollte heute erlaubt sein ;-)
Und dann treffen wir uns am Geburtstagstisch …

Dienstag, 18. Mai 2010

Wenn man 18 ist ...

… und der Vater stirbt,
dann erzählt man das nicht unbedingt in der Schule herum,
dann teilt man es höchstens der Klassenlehrerin in einem knappen Satz mit, aber erst, nachdem die Formalitäten der Geschichtsprüfung besprochen wurden,
dann brauchen die anderen Lehrer das nicht zu erfahren – „wobei: ist auch schon egal, morgen steht es eh in der Zeitung“,
dann lacht und albert man mit seinen Mitschülern, stärker noch als in den Wochen zuvor, da der Vater „nur“ im Sterben lag,
dann möchte man auf keinen Fall fehlen, keine Klausur versäumen, nein nein, das „geht schon“,
dann geht man auch am Vormittag der Beisetzung noch in die Schule – es ist „kein Problem, klar komme ich da“,
dann ist es einem „peinlich“, wenn einem vor der Lehrerin ein paar Tränen aus dem Auge rollen,
dann sitzt man zwar etwas stiller im Unterricht, etwas versunkener, aber man hebt trotzdem hin und wieder die Hand,
ja, dann wirkt man eigentlich ganz normal. Man lässt sich nichts anmerken …

Wenn man 18 ist …
… und der Vater des Freundes, des Mitschülers stirbt,
dann ist man geschockt, fassungslos, schmerzlich berührt, dann tut es unglaublich weh,
dann möchte man so gern etwas tun, doch weiß nicht was,
dann wundert man sich, warum der J. so unerwartet fröhlich ist: „das ist doch komisch?!“,
dann wirft man eine liebe Karte heimlich in der Nacht ein, weil der J. das in der Schule doch sicher nicht will,
dann ist man als bester Freund unsicher, ob man zur Beisetzung gehen solle, weil das dem J. vielleicht gar nicht recht ist,
dann weiß man so vieles nicht, traut sich aber nicht, den J. danach zu fragen,
dann steht man schließlich doch auf der Trauerfeier, sich selbst fremd im schwarzen Anzug, unbeholfen, nicht wissend, ob man an diesem Ort seine Lehrerin durch ein Lächeln begrüßen darf – nein, besser hier nicht lächeln …

Es waren intensive Tage mit meinen Zwölftklässlern. So viele Gespräche, wichtige Augenblicksbegegnungen, Fragen, Schweigen, Unsicherheit, gemeinsame Tränen auf dem Schulflur … So viel wahres Leben, das der Tod uns mit seinem plötzlichen Hereinbrechen in die Schule gebracht hat.
Auf manche der „ich weiß nicht“s der Schüler kann ich, können wir, die Erwachsenen, den jungen Menschen keine Antwort geben. Sie werden selbst danach suchen müssen, vielleicht ihr Leben lang.
Bei manchen „ich weiß nicht“s konnten wir ihnen die Unsicherheit nehmen. Konnten sie ermutigen, ihm, dem J., das zu schenken, was ihnen von Herzen wichtig ist: eine Karte, ein Buch, einen Brief, eine CD, ihr Teilnehmen auf der Trauerfeier, einen Blick, ein Gesprächsangebot, um ihm zu zeigen, dass sie an ihn denken. Auch wenn der J. sich “komisch” verhält.
Vielleicht hat er, der J., spüren dürfen, dass wir ihn und seine Trauer wahrnehmen, hier bei uns in der Schule. Mehr können wir nicht tun für ihn …



Eine Stunde in der letzten Woche ist mir eindrücklich in Erinnerung. Auf dem Schulflur organisieren wir das gemeinsame Geschenk der Jahrgangsstufe, im Raum rechnet mein Kurs gedämpft vor sich hin, mittendrin sitzt J.
Irgendwann trete ich wieder ein, muss weitermachen, das neue Thema – „lineare Unabhängigkeit“ – beginnen. Es erscheint mir so fern wie nur irgendwas.
Wie von außen beobachte ich mich selbst, höre mich reden, wozu dieses geometrische Konzept dient, wo es sinnvoll anzuwenden ist, welche Grundvorstellung darin schlummert … ich erzähle und erzähle, viel mehr als sonst, als ob eine Geschichte aus mir heraus komme. Mathematik zwar, aber irgendwie noch etwas Anderes. Schreibe nichts an die Tafel, schaue immer nur die Schüler an, bin selbst verwundert.

Es wird eine neue Dimension aufgespannt” – ist es dieser Satz, den ich mich sagen höre, oder die gebannt zu mir schauenden Schüleraugen, oder die Stimmung im Raum, die uns heute verbundener denn je sein lässt, oder meine Stimme, zwischen deren Zeilen wohl alles Unsagbare durchscheint – ich weiß es nicht. Ich kann nicht erklären, was in diesem Moment geschieht.
Ich stehe wie inmitten einer neu verknüpften Einheit von unserem Mathematikstoff und dem Anderen, Unsagbaren. Zwischen mir und den Schülern scheint eine neue Tiefendimension des Miteinanders, ein neues gegenseitiges Wahrnehmen eröffnet. Eine neue Art der Begegnung, die nicht nur aus nicht verwirklichten Möglichkeiten besteht (wie ich sie in der Schule täglich zu Hunderten erlebe), sondern eine Begegnungswirklichkeit ist.
Ja, Begegnung als Wirklichkeit, in diesen Minuten. (Ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben soll.)

Weil die Lebenswirklichkeit in Gestalt des Todes zu uns in die Schule gekommen ist, weil sie uns durchlässig gemacht hat, uns alle. Deswegen durften wir wirklich zusammenfinden, für diesen kurzen Moment. Wie dankbar ich bin, solches erlebt zu haben.

Buchpräsentation und Muttergefühle

Soeben in der Grundschule. So habe ich mich noch selten erlebt.
Der Sohn soll ein Buch vorstellen, so wie alle anderen Kinder auch. Heute sind drei von ihnen dran. Die jeweiligen Eltern sind dazu eingeladen, und so sitzen wir im Klassenzimmer, hinter 25 aufmerksam lauschenden Kindern.

Das erste Mädchen beginnt, erzählt über eine Autorin, nutzt eine Karteikarte mit Stichworten. --- Der Sohn schreibt an seinem Platz eifrig auf eine solche.
--- Ich werde ganz aufgeregt: was macht er da nur, er sagte doch gestern, er wäre fertig?

Als nächstes wäre er dran – nein, er hätte seine Karteikarte vergessen, müsste sie neu schreiben. Na, das ist aber mit heißer Nadel gestrickt, schmunzelt die Lehrerin. Er schreibt unbeirrt weiter.
--- Ich werde immer nervöser: wenn wir das nur schaffen …

Vorn tritt ein zweites Mädchen auf. Kurz vor Ende ihres Vortrags geht der Sohn auf die Toilette.
--- Ich glaube, ich muss auch mal …

Dann ist er dran, scharrt mit den Füßen, beginnt stockend, in abgerissenen Sätzen.
--- Mir rutscht fast das Herz in die Hose … (Ich hoffe, ich habe nicht auch mit den Füßen gescharrt.)
Er redet allmählich flüssiger, erzählt die lange lange Geschichte seines Buches auswendig und hat endlich den freien Teil des Vortrages beendet. Beginnt eine Passage vorzulesen.
--- Ich atme erleichtert auf: lesen ist doch viiieeel leichter als frei sprechen.
Er liest schnell – zu schnell – und viel, ist nicht mehr zu bremsen.
--- Ich gehe mit der Geschichte mit. So intensiv spüre ich Geschichten nie, wenn ich sie selbst vorlese. Wunderbar!
Er ist tatsächlich nicht zu bremsen, die Lehrerin flüstert ihm dreimal von hinten ins Ohr, nachdem er schon zweimal umgeblättert hat und seine Ende-Markierung noch einige Seiten hin ist.
--- Oh je, das würde mich total aus dem Konzept bringen.
Nun hält sie ihm den nächsten Absatz zu, sagt, dass er sonst wohl bis zum Ende lesen würde, und das wollten wir doch nicht verraten ;-) - Er lächelt und hört einfach auf.
--- Mir fällt ein Stein vom Herzen: Geschafft.
Noch die Fragen und Anmerkungen der anderen Kinder. Er antwortet souverän.
--- Ich staune nur.
Ein Mädchen sagt: „Mir gefällt, dass Du alle Figuren auf das Plakat gemalt hast, so dass man sie sich besser vorstellen kann.“ – Er sagt: „Danke.“
--- Ich staune noch viel mehr. Wir schwer das doch ist, ein positives Feedback nicht abzumildern, sich nicht herauszuwinden. Nein, einfach „danke“ sagen – das könnte ich wohl nicht.

Oh, ich bin immer noch ganz aufgeregt. Werde nur langsam ruhiger. Die anderen Eltern wirken gelassener. Warum habe ich nur so extrem mitgefiebert?
Vielleicht weil es mir unglaublich erscheint, unglaublich schwer, unglaublich mutig, sich in diesem Alter vor so viele Zuschauer zu stellen und frei zu sprechen. Weil wir das früher in der Schule nie mussten und auch nicht gekonnt hätten – insbesondere ich hätte das niiiieeeee hingebracht.
Und weil ich meinen Sohn selten außerhalb der Familie erlebe, noch nicht weiß, wie sehr er dort schon gewachsen ist. Was er alles für Mutkräfte in sich trägt – ja, davon habe ich wohl keine Ahnung. War deshalb aufgeregter als er selbst. Habe ihm nicht zugetraut, was für ihn schon längst ein Leichtes ist …
Oh man, ich werde das üben müssen: gelassen zuzuschauen, wie er große Schritte geht.
Am Donnerstag meine nächste Übemöglichkeit: Klaviervorspiel im Großen Saal der Musikschule.

So, und nun Tochtergeburtstag vorbereiten.

Montag, 17. Mai 2010

Mein Sohn, heute so


Zunächst finde ich diesen Zettel auf meinem Computertisch. Aha, er war bei goo.gle unterwegs, denke ich.
Was er denn gesucht hätte? - Wie ein Verbrennungsmotor funktioniert.
Und ob er fündig geworden sei? - Ja, klar.
Offenbar ist goo.gle orthografische Varianten gewohnt ;-)

***

Beim Mittagessen entspinnt sich ein Gespräch über das letzte kleine Malheur der Tochter. Er will sie in ihrem Bemühen unterstützen:
"Wir können uns das ja vornehmen, dass Du eine ganze Woche schaffst. Und ich mach mit, ich nehm mir vor - sagen wir mal - ein ganzes Jahr. Oder fünf Jahre. --- Ok, Schwester: ich schaffe fünf Jahre ohne nasse Hosen - und Du eine Woche?!"
Ich wage mich einzumischen, da könne er sich ja gleich mehr vornehmen.
"Nooooch mehr???"
"Na ich zum Beispiel habe schon etwa 35 Jahre keine nasse Hose mehr gehabt."
"Fünf-und-drei-ßig Jahre!!!" (Die Kinder staunen anerkennend vor sich hin.)
"Da warst Du ja etwa zwanzig, vor fünfunddreißig Jahren!"
Ähm, danke, mein Sohn, denke ich. Noch nicht ganz zwanzig, noch nicht ganz ...
"Ach so, nein, sechs warst Du."
Na bitte, geht doch :))

***

Beim abendlichen Vorlesen ist ein Buch über Zootiere dran. Stehen immer Größen- und Gewichtsangaben dabei. Ich mache das den Kindern anschaulicher: 5 m ist zum Beispiel die Giraffe hoch, so viel wie zwei unserer Stockwerke. Boah, staunen die Kinder.
Irgendwann übernimmt es der Sohn, diese Vergleiche zu finden.
Er macht es gut.
Bis zum letzten Tier: Das Flusspferd wiegt 3000 kg.
Er ganz belehrend: "Schwester, das ist seeehr viel, das ist wie 4mal die Mama!!!"
Ich lache laut los und sage "Na nicht ganz."
"Ähm, nein, 5mal. --- Äh nein, 6mal."
Ich lache immer lauter.
"Ach so, nein: 60mal!!!"
Er schlägt sich auf die Stirn, ist froh, dass es jetzt endlich stimmt ;-))
(Nein, das Feintuning, das lasse ich dann bleiben. Es sind nämlich nicht wirklich 60mal, auch nicht 50mal, nein ...)

Heute vor vier Jahren ...

… war dieses Foto schon 11 Tage alt,



… und der Kommentar „Bis jetzt ist noch keins dringeblieben“ kam uns zu den Ohren heraus. Die Anrufer begannen nicht mehr mit "Isses schon da?", sondern mit "Jetzt ist es doch aber sicher ...".
"Nein", musste ich jedes Mal antworten, und dass ich auch nicht wisse, ob das noch was wird.
Wir wurden unruhig, weil die angedachten Bruder-Babysitter sich bald in den Urlaub anschickten, die Hebamme auch. Unsere dänischen Nachbarn kamen uns heute ein letztes Mal besuchen, bevor sie endgültig Richtung Heimat wegzogen - sie hätten "es" gern noch kennengelernt.
Nur die Tochter hatte Geduld.
Weit mehr als dieses Jahr, wo sie seit Tagen den Noch-x-mal-schlafen-Countdown zählt ...

Bei der gedanklichen Vorbereitung des Kindergeburtstages übrigens geht es derzeit um die Gästeliste. Sie zählt immer ihre halbe Kindergartengruppe auf, eine deutlich zweistellige Anzahl, während ich auf 4 - na gut: 5 - Gäste beschränken möchte. Also jongliert sie mit ihren kleinen Freunden: die … und die … und der … und der … und dann noch … nein lieber … und die … und auch noch … sind das jetzt schon fünf? … oder lieber …
Irgendwann wird es ihr zu kompliziert: „Ach Mama, such Du aus!

Sonntag, 16. Mai 2010

Es liebend annehmen

Warum das so ist, darüber habe ich noch nie näher nachgedacht, aber es ist so: Ballonbodentage sind bei mir oft Aufräumtage. So richtig aufräumen im Äußeren, meine ich, im Haus irgendwo. Mein Zimmer oder den Keller oder, wie heute, die Kinderzimmer.

Warum mag das so sein?
Weil ich das Bedürfnis habe, mich im Äußeren so zu erschöpfen wie ich mich im Innern fühle? Weil meine lahmenden Kräfte nicht in der Lage sind, etwas anderes zu erschaffen als eine Ordnung in Regalen und Schränken? Weil ich dabei langsam und versunken tätig sein kann, wie es mir gerade entspricht? Weil ich Verwandtschaft empfinde: die äußere Unordnung als Spiegel meiner selbst? Weil ich also im Äußeren eine Aufgabe angehen darf, deren inneres Pendant ich im Moment nicht bewältigen kann?

Heute also Aufräumtag, obwohl wahrlich genug anderes drängte – ich konnte das alles nicht, vergrub mich ins Aufräumen beim Sohn. Dort ist es allemal nötig, immer. Die Unordnung in seinem Zimmer ist einer unserer häufigsten Konfliktpunkte. Oft muss mich beherrschen, nicht aus der Haut zu fahren, weil es mir schier unerträglich ist, das anzusehen:
ein Boden, auf dem man kaum den Fuß setzen und nicht vermeiden kann, dass beliebte Spielzeugstücke zertreten werden - ein Schreibtisch, der zu nichts weniger zu nutzen ist als zum Hausaufgabenmachen - ein buntes Allerlei unter den Schränken (wieviel schon vom Staubsauger verschluckt wurde!)- tausend Blätter eines Abreißkalenders hinter die Heizung gerutscht - Socken allerorten auf Kommode, Fensterbrett und Blumentopf - dafür die Flugzeugsammlung in der Sockenkiste - ein chaotisches Bastel- und Leseatelier in seinem Bett - das Brettspieldurcheinander, kein einziges ist je vollständig - Pflanzen-Wasser-Experimente, x Tage alt, in Schraubgläsern - Würfel, Kreisel und Zauberstab unterm Teppich, dazu angefangene Geschichten, Musikkreationen und sonstige Zettel: ganze Romane lagern unterm Teppich - Wollschnurseilbahnreste an Möbelpfosten - von Legostadtruinen und Unmengen an gebastelten Erfindungen rede ich schon nicht …
Oft bin ich kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, muss mich bemühen, den Sohn meine Wut und Aggressivität nicht spüren zu lassen. (Warum ich diese Ordnungsmacke habe, soll jetzt nicht Thema sein.)

Heute aber ein ungeahntes Erlebnis: ich stehe vor dem Chaos im Sohneszimmer, erwarte in mir die übliche Wut, bin bereit sie zu verarbeiten … doch … plötzlich wird mir ganz warm ums Herz.
In einem Augenblick hellster zärtlicher Empfindung sehe ich – mitten in all dem, was sich vor mir auf Boden, Tisch und Regalen ausbreitet – mein Kind aufleuchten. Mein unglaubliches Kind, das in jeder Sekunde mit dem, was ihm in die Finger kommt, ein Spiel ausdenkt, eine Maschine baut, sich (oder Möbelstücke:)) verkleidet, ein Experiment startet, eine Geschichte aufschreibt, eine Idee verwirklicht. Kaum dass er einen Weg im Haus zurücklegen kann, ohne etwas erfunden zu haben.
Wie könnte man da noch Socken wegräumen, und all das andere, wie ließe sich diese Unordnung vermeiden … ach. Er ist so unendlich vertieft in seiner Welt, es ist so stimmig in ihr, es ist so richtig und passend, wie es in diesem Zimmer aussieht …

Und meine innere Unordnung, wie schaue ich auf diese?
Auf meinen Energiehaushalt, bei dem nichts mehr am rechten Platz zu sein scheint, auf meine erlahmten Kräfte, die sich nicht bündeln lassen, um mir selbst aufzuhelfen. Auf mein durcheinandergekommenes „Lichtleitsystem“– äußeres Hell dringt nicht bis nach innen, wird auf seinem Weg nicht wie sonst durch Prismen in alle bunten Farben der Welt aufgefächert, sondern wie bei einem Negativfilm in Dunkles verkehrt. Auf meine Beziehungen, die auf den Kopf gestellt sind – statt mich mitzufreuen, empfange ich erfreuliche Dinge aus der Außenwelt an solchen Tagen im besten Fall mit Gleichgültigkeit, im schlimmeren mit düsteren Gefühlen, für die ich mich schäme und über die ich deswegen hier nichts weiter schreiben werde.
Ja, es ist große Unordnung in mir. Alles was sonst Stein auf Stein steht, liegt auf einem Haufen.
Wie schaue ich darauf? Mit Wut und aufsteigender Aggressivität, wie auf das Sohneszimmer? --- Ich gestehe es mir wohl selbst nicht ein: da scheint es Parallelen zu geben. Nicht Wut zwar, aber ein negatives Gefühl mir selbst gegenüber, das ist da. Warum sonst rüttelte mich dieser Moment von Sohnesliebe im Angesicht seines Zimmerchaos so auf …

Ich ahne, was unsere - meine und des Sohnes - Situation schwierig und schmerzhaft macht: dass ich ordnend einzugreifen versuche. Dass ich ständig etwas anderes will als das, was seines ist. Dass ich von außen ein Ziel versuche aufzustülpen: es soll bitte schnell wieder aufgeräumt sein – in meiner, nicht in seiner Ordnung. – Lasse ich dieses Zimmer sein wie es ist, betrachte es voller Liebe – dann, ja dann, mein Sohn, dann werden wir uns an diesem Punkt weniger wehtun.

Und bei meiner inneren Unordnung?
Lese ich die letzten Sätze nochmals, setze statt „seines“ ein „meines“, statt „mein Sohn“ ein „liebes Ich“ --- dann weiß ich, was ich lernen muss:
Mich selbst liebend annehmen, mit und in meinem ungeordneten inneren Zustand. Auf mich selbst zu schauen wie vorhin in diesem zärtlichen Augenblick auf meinen Sohn.
Dann werden solche Tage leichter zu leben sein.

Dass sich die innere Ordnung immer wieder von selbst einstellt, die Energien von selbst regulieren, die Kräfte wie neu wachsen, das Licht wieder an den richtigen Ort gelenkt wird, ohne dass ich dafür Schublade für Schublade aufräumen muss, das ist leicht und schwer zugleich. Leicht, weil ich nichts zu tun brauche. Schwer, weil ich nichts tun kann. Nur Geduld haben. Nur Geduld …

Gestern schon ...

... hätte ich diese beiden Bilder aufnehmen können.

Dieses hier:


Erstaunlich, dass ich mehr als 48 Stunden vor der Abgabe fertig wurde. So kenne ich mich gar nicht.

Und dieses hier:


Langgehegter Wunsch, lang lang ausgesucht und dann entschieden, bestellt an einem der langen Korrekturabende - als tröstlicher Pausenfüller, und sozusagen zur Belohnung. (Nein, ich habe mir die Abiturkorrektur nicht jedes Jahr so belohnt. Zufälliges Zusammentreffen: im Moment, wo ich den Grünstift aus der Hand legte, klingelte der Postbote.)

Das erste Bild ist noch nicht aufgenommen. Nun habe ich so lange gewartet, so oft in den letzten Wochen meine alte analoge Spiegelreflex in der Hand gehabt, so lange mich vorgefreut, mir ausgemalt, wie wunderbar es sein würde, endlich wieder einen "gescheiten" Fotoapparat zu haben ... dass das erste Motiv ein würdiges sein soll. (Auch wenn es ein wenig seltsam klingt: mir ist das wichtig.)
Und dafür ist gerade nicht die rechte Zeit. Mein Blick ist derzeit zu verstellt, zu eingetrübt, zu unfähig, ein Lichtbild zu sehen und aufzunehmen. Der richtige Moment wird kommen, Geduld ...