Montag, 31. August 2015

Tag 20: Juchhöh - Dreiländereck - Hof


Schwer tue ich mich, über den letzten Radfahrtag zu schreiben, schiebe es vor mir her.

Nachdem dieser Satz hier steht, gehe ich erstmal unter die Dusche. Als ob mir mit dem Wasser die Gründe, warum dies so ist, in die Bewusstheit regnen würden.

Und nun, wirklich, sind mit der Dusche einige Gedänkchen in mein Hirn getropft. Und Antrieb, mich diesen schreibend zu widmen. Auch wenn hier zu Hause wieder mein Perfektionismus lauert. Nach der ganz lockeren Aus-der-Hand-Bloggerei erwartet er nun eine saubere Einleitung-Hauptteil-Schluss-Konzeption mit rotem Faden, Höhepunkt und Pointe von mir. Heute huste und puste ich ihm was, diesem perfektionistischen Innen-Ich.
Vielleicht ist meine Schreibprokrastination auch Ankommensverdrängung. Solange ich den letzten Tag noch nicht erzählt habe, ist er nicht vorbei. Naives Gemütchen, das sich solches zurechtlegt.
Denn dass ich seit Verlassen des Fahrrades noch keine Zeit gehabt hätte - trotz später Ankunft in Hof und langem Nahrungssuchegang in die Stadt, trotz Zugfahrt mit fünfmaligem Umsteigen (völlig schreibensungeeignet), trotz nur 36 Zuhausestunden mit Wäsche- und sonstigen Bergen, bevor wir jetzt schon wieder unterwegs sind - das mit der fehlenden Zeit stimmt einfach nicht. Zeit findet sich immer. Wenn man sie nur finden will.

Es ist komplizierter. Sehr widersprüchliche Gefühle treffen mich an meinem letztem Tourtag, mit unerwarteter Heftigkeit. Jetzt, da ich beginne zu schreiben, weiß ich noch gar nicht, wieviel ich davon hier öffnen möchte.

Erzähle ich einfach mal die äußeren Abläufe.
Rekord im Frühlosfahren. Nach wenigen Kilometern das Deutsch-deutsche Museum Mödlareuth, vor dessen Eingang ich um Punkt 9 stehe und in dem ich mehrere Stunden verbringe. Die am besten aufbereitete Gedenkstätte von allen, welche ich gesehen habe. Eine unsentimentale Darstellung der Lage dieses geteilten Dorfs, in ihrem Fakten- und Facettenreichtum sehr berührend. Dazu als Sonderausstellung eine Dokumentation der Geschehnisse in der Prager Botschaft im Herbst 89, die Flüchtlingszüge nach Hof, die Versorgung und der warmherzige Empfang tausender Menschen in wenigen Tagen. --- Wie das so vergessen werden kann. Mich schüttelt es. Diese Prag-Hof-Ausstellung von ungewollter Aktualität, mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Pflichtbesichtigung für alle, die da derzeit "besorgt" ... ob das helfen würde?

Irgendwann fahre ich weiter. Die letzten Radkilometer vermischen sich im Kopf mit dem schon jetzt beginnenden unsanften Wiedereintritt in die reale Welt. Mein Unterwegssein, in gewisser Hinsicht ein Blasendasein, endet in einer schwierigen Strecke. Keine großen Höhen, dafür permanentes Auf und Ab, kaum mal 100 Meter waagerechte Strecke. Heftiger Wind, fitzelkleine, schwer zu findende Straßen, meine Müdigkeit. Ich bin heute langsamer als sonst, schiebe so manches Mal, und die unlebendigen Dörfer am Wegesrand fließen an mir vorbei wie in einem Film, dessen Szenerie ich nicht wirklich betrete.
Bald schon erreiche ich das letzte meiner neun Bundesländer: Am Dreifreistaateneck treffen Sachsen, Thüringen und Bayern aufeinander. Ich freue mich über mein Geburts- und Studierland und wähle für meine Bemme die sächsische der drei Bänke.
Ein paar Kilometer weiter dann das Ende des deutsch-deutschen Grenzwegs, am sogenannten Dreiländereck, welches eigentlich keines mehr ist. DDR-Bundesrepublik-Tschechoslowakei, damals. Eine geöffnete Wiese mit Staatsgrenzeschildern, Infotafeln, Picknickplatz und Brücken, heute. Ich werde still, sitze, schreibe, esse, rede mit Leuten, die auf Tagestouren hier vorbeikommen, grenzüberschreitend, und realisiere, dass ich "da" bin. Da: am Ende des Weges, den ich mir für diese Reise gesucht hatte.

Und dann muss ich weiter, zurück ja eigentlich schon, die Jugendherberge Hof wartet auf mich. Keine 20 km zwar, aber wiederum kraftraubende Hügel und viele Kilometer völlig seitenstreifenfreie Landstraße. Man überholt hier so knapp, so rasend schnell, dass ich Angst vor den Autos bekomme. Nach wenigen Kilometern kann ich der Riesenstraße entfliehen, das ausgeschüttete Adrenalin ist unwillkommener Ankommensgruß der lauten Realität.

Die Jugendherberge in Hof ist herzlich, sehr. Das tut mir gut. Nur leider bin ich zu spät zum Abendessen. Muss mich in die Stadt aufmachen, Hügel runter, Hügel drüben hoch, um etwas zu essen zu bekommen. Es wird ein Zu-Fuß-Abend. Lange laufe ich herum. Und - für mich selbst überraschend - kämpfe mit den Tränen. Lasse welche fließen. Ich weiß gar nicht genau warum. Sortiere in mir, ohne große Klarheit zu finden.

Was löst mein Ankommen in mir aus? Lange hätte ich nicht gedacht, dass ich es hierher schaffe. Nicht wegen der fehlenden Reisetage am Anfang, nicht aus Zeitgründen, sondern weil ich bisher fast ausschließlich Flachlandfahrerin war, zäh und ausdauernd zwar, aber eben vor Bergen zurückschreckend. Als Kind schon waren Berge für mich problematisch. Stets war ich die Langsamste, die Letzte, die oben ankam, auch in meinen Studentenurlauben mit Freunden. Für mein innerliches oder - bei Mut - herausgejammertes "Ich kann nicht mehr" schämte ich mich, ersetzte es zuweilen sogar durch Notlügen wie "Ich habe Knieprobleme". Innerlich verschloss ich mich den Bergen mehr und mehr, solange ich sie aus eigener Kraft erreichen musste. So war das mit mir und den Bergen.

Der Wunsch nun nach genau diesem Radweg, letztes Jahr während der Filme und Feiern anlässlich des 25jährigen Mauerfalls aufgekommen, führte nach einem kurzen Blick auf das Streckenprofil zunächst zum Beiseiteschieben. Kein Radweg für einen derart bergunsportlichen Menschen wie mich.
Eigentlich aber war klar, dass dieser Weg "dran" ist. Nicht weil ich mich in einer Anstrengung erproben wollte, sondern aus Erinnerungs-, aus"inhaltlichen" Gründen. Die Berge stehen zufällig auf dem Weg herum. Weder leider noch zum Glück, sondern: Es ist wie es ist. Eher unbewusst dachte oder hoffte ich, dass man Unsportlichkeit doch bestimmt durch Zähigkeit, Ausdauer und Wollen ausgleichen könne. Durch Langsamkeit eben. Und wenn es nicht mehr geht: durch Schieben. Ja, mit solchen Gedanken machte ich mich auf die Reise.

Nach der norddeutschen "Warmlaufphase" steht dann also der Harz vor mir wie ein Berg (was er ja auch ist:)) - und siehe da: Es geht. Ich bemerke erstaunt, dass meine Angst immer mit Beginn des Anstieges schwindet. Sobald ich nur auf dem Aufwärtsweg bin, läuft es Tritt um Tritt. Ohne Ungeduld, ohne Sorge, ohne Hadern, lediglich mit ein bisschen Keuchen. Innerlich geht es mir gut dabei, immer besser zum Ende der Reise hin. Immer demütiger werde ich, immer mehr atme ich den gegenwärtigen Schritt, und alle Zahlen-Meter-Zeiten verschwinden aus dem Kopf. Kein Kampf mehr zwischen Erschöpfung und noch zu Bewältigendem. Es fährt sich.
Und: Wie gut, diesen Weg allein zu gehen. Sonst würde ich mich womöglich unter Druck fühlen, schneller sein zu müssen. Mit mir allein aber bin ich stimmig. Ich fahre Höhenmetermengen, die ich im Leben noch nie geschafft (aber eben auch nie versucht und mir zugetraut) habe. Sicher steige ich häufiger ab, schiebe zur Erholung und werde öfter überholt als dass ich überhole. Das alles ist nicht wichtig. Selbst in Langsamkeit komme ich abends immer an, manchmal erst mit Einbruch der Dunkelheit. Mir geht es uneingeschränkt gut. Alles ist richtig und stimmig wie es ist. Auch meine Langsamkeit.

Und dann stehe ich am Ziel und werde mir all dessen plötzlich bewusst. Dass ich diesen für mich schier nicht zu bewältigenden Weg tatsächlich geschafft habe. Ich fühle mich wie ein Schulkind, das statt der 4minus die 4plus geschafft hat, erstmals, und keiner merkt's. Denn da sind immer die mit den unangestrengten 1en, um es mit einem Schulbild zu vergleichen.
Und noch etwas wird mir bewusst: Dass ich mich anstrengen kann, dass ich einen Willen auf ein Ziel zu haben kann, ohne dass es verbissen und quälend wird. Dass ich an meine Grenzen gehen kann, ohne mich selbst zu zerstören. Dass es lohnt, seine Kräfte in selbst gesuchte, selbst gesteckte Ziele hineinzugeben, weil diese die einzig wichtigen sind.
Das alles möchte ich meinen Schülern unbedingt mit auf ihre Wege geben. Nur fühle ich mich dazu manchmal kaum ermächtigt, habe ich doch von Anstrengung und Mühe genau genommen keine Ahnung. In der Schule und ähnlich kopflastigen Bereichen, bei den Dingen, die in unserer Gesellschaft permanent mit Notenbewertung versehen werden, bin ich mein Leben lang ohne Mühe in der 1,0-Region herumgehopst. Dort hatte ich keine Gelegenheit, mich in Anstrengung, Ausdauer und Durchhaltevermögen auszuprobieren. Viele meiner "Leistungen" bekam ich ohne Investition geschenkt. Ich habe mir die 1,0 nicht verdienen, nicht erarbeiten müssen. Sie war immer einfach so da. Darum fühle ich mich - unter anderem - auf spezielle Art lebensfremd. Beneidet von außen. Nicht wirklich beneidenswert aus der Innensicht.

(Jeder, der hier nichtverstehend oder empört aufprustet und das Wort "Luxusproblem" auf der Zunge verspürt, sei einfach um Stillschweigen gebeten. Ich habe lange Mut sammeln müssen, um dieses Thema hier anzureißen. Im Moment möchte und kann ich es nicht vertiefen, weil es zu weh tut, und weil ich noch zu wenig klar sehe. Weil unsere spezielle Situation mit sehr viel von außen vermutlich nicht verständlichem Leiden verbunden ist. Meinen Kindern geht es ähnlich. Jetzt, mit ihnen und an ihnen, sehe und reflektiere ich auch meine eigene Kindheit. Lese Bücher und lasse mich beraten, wie ich meine Kinder unterstützen kann. Sich für "seltsame" Dinge interessieren und sich falsch fühlen, weil man bei den anderen nie mitreden kann. Ständig Fragen stellen und nach Antworten suchen und in der Klasse immer weiter nach außen gedrängt werden. Erfolgsmedaillen um den Hals tragen und ohne Selbstwertgefühl in der Ecke stehen. Jeden Wettbewerb gewinnen und auf die Siegerurkunden bittere Tränen der Einsamkeit weinen.)

Hier aber, bei meinem Radfahren, hier fliegt mir nichts zu. Mir tut es unendlich gut, mich anstrengen zu müssen, um ans Ziel zu kommen. Vielleicht habe ich dieses Erleben instinktiv gesucht, als Erfahrung für mich selbst. Und um besser nachfühlen zu können, wie sich Kinder fühlen, denen etwas gelingt, was niemand sonst wahrnimmt. Vermöchte ich dies nicht in gewissem Maße, wäre ich wohl im falschen Beruf.
Wie erzählt: Früher als Kind und lange noch habe ich mich dieser Erfahrung entzogen, bin Bergen ausgewichen, habe mich vermeidend auf die kognitive Flachlandstraße zurückgezogen, auf der ich locker auf der Überholspur an allen vorbeiziehen konnte.
Später dann, ich stand kurz vor dem Ende meines ersten Studiums und fühlte mich schon lange innerlich grau, war plötzlich eine Sehnsucht da, das Andere in mir zu suchen. Mich nicht länger über mein "Klugsein" zu definieren, so wie es mir durch die Welt ringsum nahegelegt schien. Die Ahnung, dass sich das Wesentliche des Lebens in anderen Dimensionen bewegt. Instinktiv suchte ich mir eine Tätigkeit im Altenpflegeheim - und eröffnete mir damit eine neue Welt, eine neue Weite. In jahrelangem Prozess ging ich auf mich zu. Suchte und begann zu finden. Mit dem Abschied von der längst feststehenden Universitätskarriere - für alle Seiten schockierend-überraschend -, mit dem Zurückgeben des Stipendiums - von der Studienstiftung nicht mal ein Abschiedsbrief - und mit ein paar Jahren des "Herumlungerns" in einem zweiten Studium, welches ich jetzt zu nichts gebrauchen kann, aber das half, mich neu zu formen. All das bereute und bereue ich in keiner Sekunde und in keinem noch so versteckten Hinterwinkel meines Seins.
Und dann wurde ich "nur" Lehrerin. Das "nur" denkt meine frühere "kluge Welt". Mein Sohn sprach es eines Tages aus, gleich dem Kind aus des Kaisers neuen Kleidern. Wir waren in ein Gespräch über meinen Berufsweg geraten, und er wollte verstehen. Weil er damals - er war 11 - wohl schon ahnte, dass es auch um seinen künftigen Weg geht. Denn auch er wird vor der Herausforderung stehen, trotz vielfältiger Riesenbegabungen den Herzensweg zu suchen, und nicht den naheliegenden des Erfolges.
Nur ich also, und nun auch er, und natürlich nahe Menschen wissen, dass genau hier mein Platz ist. Hier als Lehrerin. Hier, wo durch eine Leistungs- und Bewertungswelt täglich Kinder vor sich hinleiden, wo die Außenbewertung durch Noten nur mittels eines urinneren Wertesystems aufgehoben werden kann, wo junge Menschen bei genau diesem Wachsen und Reifen eine helfende Stimme brauchen - hier gehöre ich hin.
Lange musste ich suchen, um dies herauszufinden.

Hier ist so viel Bedürfnis nach Gesehenwerden. Je länger ich in der Schule arbeite, desto mehr spüre ich, dass dies vielleicht unsere wichtigste Aufgabe ist - den Kindern in die Augen sehen und sagen: Du bist gut, so wie du bist.
Im Laufe der Jahre hat sich dabei mein Fokus geweitet. Anfangs stach mir vor allem das Weh der Kinder hervor, die von unserer Schulform überfordert sind. Mehr und mehr nehme ich Kinder wahr, deren Abweichung von der als "normal" definierten Mitte in anderer Form auftritt. Viele dieser Kinder leiden mehr oder weniger still. Alle diese brauchen verstehende Blicke, eine haltende Hand, ein Geländer, um ihren Weg weitergehen zu können. Sie alle brauchen ein Ich sehe dich. Dafür, glaube ich, bin ich in diesem Beruf gelandet. Im für mich richtigsten und schönsten Beruf der Welt. Wie gut das.

Abgeschweift bin ich. Alles hat ja immer mit allem zu tun. Darum geriet der Bogen so weit. Zurückkehrend also zu meiner "Sportleistung". Plötzlich, in Hof auf der Straße, meldet sich das kleine Kind in mir. Mit seiner Sehnsucht, dass da jemand sagt: Das hast du gut gemacht. Ich sehe dich.
Und dieses gut, so sehnt es sich in mir, möge bitte nicht bewertend, nicht leistungsbezogen gemeint sein, nicht auf meine Höhenmeter bezogen, nicht auf meinen Mut diese anzugehen, noch nicht mal auf die Tatsache, dass ich diese "Leistung" ohne Hadern, ohne Groll, ohne mentale Erschöpfung in Demut "vollbracht" habe. Sondern für mein blankes, pures, nacktes Ich-Sein. Dafür, dass ich bin.
Du bist gut, so wie du bist.

Dieser Jemand muss ich mir wohl selbst sein. Das werde ich auch noch lernen, mehr und mehr.

All sowas fließt mir durch den Kopf, während ich durch Hof laufe, um etwas zu essen zu suchen. Und auf den Wangen fließen Tränen ...

(Soll ich das so stehenlassen? Darf man von so etwas schreiben?)
(Schaffe ich es trotz meiner Scham, jetzt auf den Veröffentlichen-Knopf zu drücken?)

Mittwoch, 26. August 2015

Tag 19: Lehesten - Juchhöh


Es ist nicht so, dass ich den Abschiedsschmerz schon heute spüre. Aber ein wenig zieht es. Vorletzter Tag der Reise, ein vorletztes Mal morgens auf den Weg gehen, ein Ziel suchen, abends einlaufen. So plötzlich ist die Reise um. Während sie mir anfangs unendlich schien, auch weil ich noch nie so lange allein unterwegs war, während ich zwischendurch an den Schlechtwettertagen in bergigem Gelände in leichte Zweifel verfiel, warum ich weiterfahre, warum ich mir die Anstrengung im Regen antue, ist das Fahren jetzt zur Normalität geworden. Seit wenigen Tagen sogar ohne Zeitdruck, ohne ständigen Blick auf die Uhr, einfach nur durch die Landschaft treideln.
Und plötzlich ist es um.
Mein Kopf wälzt Plänchen für die nächsten Ferien, während diese noch nicht zu Ende sind. Absurd.

Ich fahre also morgens los. Bedeckter Himmel, Kälte, Nieselregen - im Gegensatz zu den Ansagen der Wetterapp - und böiger Wind. Bergauf. Ich schleiche mit knapp über Fußgängergeschwindigkeit - und es fühlt sich normal an. Tritt Tritt Tritt. Monoton. Ohne nachzudenken. Ohne zu hadern. Das vor allem. Gutes Fahren ist Fahren ohne Hadern. Über die Anhöhen und Winde und Beschwerlichkeiten des Weges gar nicht mehr nachdenken, sie nicht im Voraus betrachten, nicht als Berg vor sich sehen, sondern sie Tritt für Tritt durchlaufen. Meditativ. So ist mein Fahren geworden, in den letzten Tagen schon, spätestens heute. Selbst als ich schiebe. Denn man hat mir eine lange 20%-Steigung in den Weg gesetzt. Die schaffe ich nicht zu fahren. So ist das eben auf diesem Grenzweg.

Nachmittags im Supermarkt - an die Abwesenheit von Cafés und Picknickplätzen habe ich mich gewöhnt, wenn ich Glück habe gibt´s nen Stehkaffee beim Discounter - treffe ich ein Radlerpaar, das die Saale längs fährt. Sie hatten sich unter Flussradweg etwas anderes vorgestellt. (Hätte ich wohl auch, wenn ich mir diese Tour ausgesucht hätte.) Wirken müde von den ständigen Steigungen, genervt von den großen Straßen und empört über die Einfachheit der Unterkünfte.
Hm. Ich bin viel jünger als die und fühle mich nicht ermächtigt ihnen zu erzählen, dass man die Dinge auch anders sehen kann. Ein bisschen kommen wir aber trotzdem ins Gespräch, sie fragen nach meinen Tagen, und ich erzähle, wie sich mein Blick auf Berge und Hindernisse im Laufe der Tage geändert hat. Sie hören zu. Wir wünschen uns gute Fahrt - mögen sie noch in einen wirklichen Fahrttritt hineinfinden.

Und einen Wanderer treffe ich. Oben am Rennsteig schon, denn mein Radweg führt über viele Kilometer darauf entlang. Und dann unten, an seinem Ende in Blankenstein, da hat er mich eingeholt. Sechs Tage ist er entlanggelaufen - schneller war ich mit dem Fahrrad auch nicht:)
Nun läuft er noch vor bis zur Saale und sucht eine Stelle, um seinen Stein aus Hörschel hineinzuwerfen. Er wirkt versonnen.
Ein anderer Wanderer hat sich im Supermarkt mit wohl den gleichen Dingen versorgt, die auch ich als Stärkung brauche, und macht sich singend auf den Weg. Hochzu. Es gibt schon viele Menschen, die auf dem Weg sind ....

Viel mehr bleibt mir von diesem Tag gar nicht zu erzählen. Ich bin glücklich unterwegs gewesen. Habe an Gartenzäunen und Rastbänken Schwätzchen gehalten, Wärme in so kleinen Begegnungen gespürt, die Frauen an der Bushaltestelle...
Habe die Nieseltröpfchen auf der Haut gespürt und den Wind im Gesicht, und irgendwann auch die Sonne. Habe den Rennsteigschotter gustiert - nach dem gestrigen Tag - und das waldige Auf und Ab, das heute gar nicht verirrträchtig war. Bin mehrmals viele viele Höhenmeter hinaufgetreten und habe das langsame Hinabrollen geübt. Ja, doch, beim Hinunterrollen muss man bremsen. Dann ist es nicht so schnell vorbei. Zumal wenn man Blicke in die Landschaft geschenkt bekommt, die vermutlich bis an die Ränder des Kontinents reichen. So weit ist es hier. Nach jedem Aufstieg ein tiefes Aaaahhh über das, was sich dem Blick öffnet. Und dann bremsend hinabrollen und sich wie im lebendigsten Film des Lebens fühlen.
So war das heute.

Und nun bin ich in Juchhöh. Eine Siedlung bestehend aus genau vier Häusern. Betont wird der Name auf der zweiten gedehnten Silbe, so höre ich es von den Einheimischen. Schon morgens rief ich hier an, denn es ist das letzte Gasthaus vor dem Dreiländereck. Dünn gesäht sind die Quartiere hier, immer noch. Es war und ist eben Grenzstreifen. Also: nach den gestrigen Erfahrungen rief ich morgens an. Sie hätten Urlaub, sagte die Frau, aber sie machten für mich auf. Und auch was zu essen bekäme ich. Unglaublich. Extra für mich?! In ihren Betriebsferien?!
Juchhöh! Juchhe!

Am letzten Tag - jetzt gleich - wird es in ein geteiltes Dorf gehen, das darum von den Amerikanern einst ¨Little Berlin¨ genannt wurde. Dann ans Dreiländereck, welches eigentlich gar kein Dreiländereck mehr ist:) Ich werde meinen Fuß kurz nach Tschechien setzen - leider ist keine tschechische Ortschaft in der Nähe, sonst würde ich zu gern all die tschechischen Leckerlis ... nun gut, ist nicht.
Dann nach Hof. Und um mich am letzten Radeltag nicht hetzen zu lassen, werde ich nicht mehr abends mit dem Zug nach Hause fahren, sondern in aller Ruhe ausrollen und in der Jugendherberge übernachten. Bevor dann morgens der Zug bzw. die ZügE: ich rechne mit 6-8 mal Umsteigen.
Aber das finde ich heraus, wenn ich am Bahnhof bin. Die Berge nicht im Voraus anschauen, sondern wenn sie des Wegs kommen. Vielleicht erschafft die Bahn ja ab morgen eine Direktverbindung von Hof in mein Dorf. Warum also soll ich mich heute darum sorgen?

Dienstag, 25. August 2015

Tag 18: Stockheim - Lehesten


Mein Respekt vor den heutigen Anstiegen lässt mich den Frühigkeitsrekord im Losfahren brechen: Punkt 9 bin ich schon auf der Straße. Dabei ist es gar nicht so furchtbar wie befürchtet. Immer gleichmäßig ansteigende Asphaltstraße, später Waldweg, kein Abwärtsstück, immer gleichmäßige Steigung in einem langgezogenen Tal. Das lässt sich stundenlang in gutem Rhythmus fahren. Ermüdend ist einzig, dass es keine Pausengelegenheiten gibt, keine Bänke, keine wiesigen Wegränder, keine Orte, nichts. Hin und wieder Industrie, sonst Straßengraben oder Dickichtwald. Nach fast drei Stunden greife ich mir eine Bordsteinkante als Ausruhmöglichkeit, direkt vor einer Fabrik - das erwartet man im Thüringer Wald ja eigentlich idyllischer:)

Kurz darauf führt der Weg querfeldein. Eine Spezialität dieses Radwanderführers: mit dem Ziel steter Grenznähe werden eingefahrene Pfade verlassen. Das ging manchmal gut, manchmal nicht. Oft habe ich die Weglein nicht gefunden oder erst gefunden und dann wieder verloren. Allen, die nach diesem Bike.line-Buch fahren, geht es übrigens genauso. Und Ausschilderung ist meist nicht vorhanden. Als gnadenlos optimistischer Mensch versuche ich es aber immer wieder.

Heute geht es überhaupt nicht. Hätte ich das vorher gewusst, ich wäre weiter die ruhige Landstraße gefahren. So aber verfranse ich mich offenbar gleich an der ersten Ecke, schiebe Schotterstrecke und lande - tata - dort, wo mich die Landstraße auch hingebracht hätte und wo ich gar nicht hinwollte: Naturpark-Infozentrum Spechtsbrunn. Bis auf die vielen Autos, Busse, Motorräder, Quads und Wanderer macht das ja nichts, dieser kleine Umweg. Hat zu, ich lese 100 Schautafeln und bin bald wieder weg.

Den Rennsteig entlang für ein paar Kilometer, bis zu einem stillen Rastplatz mit Gedenktafeln, aufgestellt anlässlich der Wiedereröffnung des Rennsteiges als verbundener und verbindender Wanderweg. Hier soll ich abbiegen - und habe drei Wege zur Auswahl. Offenbar entscheide ich mich für den falschen, denn nach immer grobkörniger werdendem Schotter und vielen Aufs und Abs stehe ich im Nirvana, ca. 20 m neben einer Straße, die mir laut Navi jetzt weiterhelfen würde. Bevor ich mein bepacktes Radel aber durchs Dickicht hinüberzerre (Brombeeren, Brennesseln, Graben und ein nur schmaler Spalt in der Leitplanke gilt es zu überwinden) steht wie aus dem Nichts der gute Geist einer Beeren sammelnden Frau vor mir. Sie bestätigt mir, dass ich so an der nächsten Abzweigung nach Lichtenhain komme, also zügele ich das Radel durchs Unterholz (eine mir noch unbekannte Form des Radwanderns) und atme kurzzeitig auf.

Bis es - ganz nach Radwegeplan - auf ¨Kolonnenwege¨ geht. Hätte ich die warnenden Radler gestern doch ernst genommen. Sie berichteteten von der absoluten Unfahrbarkeit dieser Betonplatten mit Längsschlitzen in Reifenbreite. Ich schiebe also. Bergauf keuchend. Bergab immer in der Angst, dass mir das Hinterrad die Beine umhaut. So steil ist es.
Das können die Bike.line-Auoren nicht ernst gemeint haben. Ehrlich gesagt ist meine Geduld mit dem Weg hier kurzzeitig zu Ende, sehr. Ich fahre gern auf und ab, darüber kann man sich vorher kundig machen, sich überlegen, welche Anstrengungen man sich zumuten möchte. Aber ich möchte eben RadFAHRen. Davon kann heute über weite Strecken nicht die Rede sein.

Hinzu kommt, dass ich kein Übernachtungsquartier in meiner Zielgegend finde. Keiner nimmt das Telefon ab, auch die Touristeninformation nicht. An anderer Adresse heißt es empört, man hätte überhaupt keine Zimmer. Da und dort sind Betriebsferien. Und es wird grau und grauer am Himmel, beginnt zu tröpfeln. (Meine Gedanken schweifen ab: nächste Stadt, nächster Bahnhof - wie wäre das jetzt ...)

Erstmal schnell vom Berg runter, falls ein Gewitter kommt. Unten in Lauenstein (nach 20-%-Steigung, zum Glück abwärts) an einer Kreuzung ohne Bank, mit hupenden tutenden Autos, die ständig neben mir mit laufendem Motor stehen bleiben, telefoniere ich weiter und finde doch noch eine Übernachtung in der Nähe meines Tagesziels. Gut. Also weiter. Wieder 300 Höhenmeter rauf.

Und wieder Wegsuche. Der Bike.line schreibt erstmals ¨unwegsam¨, ein Attribut, das er den bisherigen Strecken nicht gegeben hat. Ich möchte gar nicht wissen, was mich dort erwarten würde und will das Stück umfahren. Mit Navi und Karte, denke ich, klappt das. Und dann noch eine Radwegeausschilderung nach Lehesten - ich wiege mich in Sicherheit .... und lande wieder am Ende der Welt.
Nach verheißungsvollen zwei Asphaltkilometern stehe ich in einem Steinbruch nebst zugehöriger Staubproduktionsfabrik, und die Straße endet abrupt. Karte und Navi zeigen sie als durchgehend an, obwohl doch hier 40 Jahre lang eine Grenze war? Ich, naiv, vertraue wieder der Karte (hab ja keine Wahl, irgendwie muss ich ja auf den Berg kommen) und lande auf dem Weg, der den Tag toppt. Untergrund: zerbröckelter Asphalt, durchscheinendes Mittelalterkopfsteinpflaster, loser Schottersand und dicht gelegte faust- bis kindskopfgroße Gesteinsbrocken. Absolut unfahrbar. Aber wohl durchgehend zum Zielort. 8,4 km. 2-3 Stunden schieben. Die Berge sind hier überall saftig, Zurückfahren ist keine Alternative.
Also schiebe ich los. Und habe ein bisschen Angst: wenn das Navi irrt? Wenn der Kompass nicht stimmt? Wenn der Weg doch noch endet und ich am Ende durch Getreidefelder schieben muss? Das ist schon unheimlich. Andererseits ist es erst 5 Uhr, und ich bin, wie ich schon sagte, ein hoffnungslos optimistischer Mensch.
Heute hat mir das sehr geholfen. Ich weiß nicht, in welche Stimmung ich sonst verfallen wäre ...

Irgendwann bin ich da. Für nur 50 km elf Stunden unterwegs. 850 Höhenmeter aufwärts, 650 abwärts. Bestimmt ein Drittel davon geschoben, auch abwärts.
Eine sehr nette Wirtsfamilie erwartet mich, hält Essen und Bier und Wlan bereit (denn hier ist Funkloch) - und ich lasse los. Da waren heute schon Sorgen und Ängste in mir, so abseits, so allein.

Während ich sitze und still werde, kommt Herr Irgendlink am Nordkap an. Ich teile mein Bier und mein Rostbrätl mental mit ihm - und denke, dass er bestimmt tausende solche Situationen durchlebt hat, und immer allein. Mir Gelassenheit abschauen ..

Wir erzählen mit den Wirtsleuten, von ihrem Leben im Sperrgebiet, damals und jetzt, und wie der Grenzzaun aussah - und dass sie aus dessen Material jetzt jenen Verschlag für ihr Kaminholz gebaut haben.
Ich spaziere durchs Dorf, und ich plane im Kopf die letzten beiden Tage, die mir noch bleiben. Werde mich mehr an Straßen halten, mich auf Waldwege nicht mehr einlassen. Werde mich gleich früh um eine Übernachtung kümmern. Werde versuchen, die letzten beiden Tage noch gaaaanz tief durchzuatmen. Es ist ja - bei allem - trotzdem gut, so unterwegs zu sein. Auch an solchen Tagen.

Montag, 24. August 2015

Tag 17: Bockstadt/Eisfeld - Stockheim


Wie gut hier geschlafen zu haben, denke ich, als ich morgens aus dem Zelt auf die sonnige Wiese krabbele. Der Zeltwirt hat mir schon Kaffee gemacht, und ein Früstühcksei im Häubchen - sooo lieb!
Ihr kennt das schon: ich sitze da und will nicht weg:)

Heute führt der Weg erstmals nach Bayern, in mein achtes von neun Bundsländern. Als hätten sie mir ein Klischee an der Strecke eingerichtet, feiert man im ersten Dorf gleich ein Oktoberfest, in Trachten und mit allem, was - nach meiner unwissenden Vorstellung - dazugehört. Es scheint aber eher sehr dorfintern zu sein, jedenfalls starren alle zu mir rüber auf die Straße, und ich verschwinde schnell.
Die Hügellandschaft wirkt voralpin, was sie ja eigentlich nicht ist. Bis zu einem Wegweiser ¨Gletscheralpe¨ - huch? Eine Hütte, ein Skilift, eine Piste am Wegesrand.
Ebenfalls am Wegesrand - und das ist gemein! - duftet es in jedem Dorf aus dem Gasthaus nach saftigem Mittagessen. Der Zeltwirt hatte mir von einer Radtour erzählt, bei der die kürzeste Etappe 7 Kilometer betrug, eben wegen eines solchen Gasthauses. Ich widerstehe; bin ja schließlich gerade erst aufgestanden.

Unten wird es wieder flachländischer. Die Orte heißen Rödental und Neustadt bei Coburg, was mir vorher nichts sagte, und jetzt auch nicht. Bin nämlich nur durchgerauscht. Heute ist es voll auf den Radwegen - Sonntag - und viele Wege sind zudem mit Fußgängern geteilt. Da will ich nicht immer heranbrausen und freiklingeln - so haben sich die Fußgänger ihren Spaziergang ja nicht vorgestellt - sondern ich praktiziere langsames Slalomfahren.

Hinter Neustadt wird es besser, weil es über ruhige, nahezu unbefahrene Landstraßen geht. Während von der ¨gebrannten Brücke¨ zwischen Neustadt und Sonneberg nichts zu sehen ist - man steht mitten in einem hässlichen Gewerbegebiet - gibt es einige Kilometer weiter einen Gedenkstein für ein geschleiftes Dorf, der liebevoll mit Bäumen und Bänken umrundet ist. Es scheint ein beliebter Ausruhpunkt für Spaziergänger aus den Dörfern zu sein. Neben mir sitzt ein alter Mann, der mit einem selbstzusammengebastelten Elektrofahrrad seine Sonntagswege geht, und erzählt. Vom Leben auf den Dörfern jetzt, und früher. Wie die Menschen aus seinem Dorf immer immer in Mupperg begraben worden waren und dieses plötzlich im anderen Land lag. Wie aus diesem nun verschwundenen Dorf, ¨in¨ dem wir sitzen, alle Bewohner eines Nachts mit ihren Tieren über die Grenze geflohen sind, bevor sie am nächsten Tag ins Landesinnere umgesiedelt werden sollten. Wie man heute am Stammtisch aber kaum mehr weiß, wer von woher kommt - die Dörfer hier sortieren sich nicht mehr nach Ost und West. Und es fiele ihm auf, dass immer weniger Menschen von außerhalb kämen und nach der Grenze fragten. Alles würde so schnell vergessen.

Ich fahre mit vielen Gedanken weiter. Immer auf ruhigen Straßen, ein bisschen auf und ab, vorbei an einem Waldhotel oben auf der Anhöhe, wo ich um 17 Uhr einen Kuchen möchte (¨Aber wir haben schon Abendessenszeit?!¨), hinabrollen ins Tal, der Autoverkehr einer Hauptstraße.
Hier springt mein Kilometerzähler übrigens von 999,99 auf 0,00. So als wenn nie etwas gewesen wäre:)

Hier unten im Tal übernachte ich auch, in einem kleinen Gasthof. Das Zimmer ist nicht viel größer als ein Zelt, jedenfalls kommt man vom Bett aus an alles dran:)
Und in der Wirtsstube versammelt sich abends ein junger Stammtisch, die mir irgendwann einen Obstler rüberschicken, damit ich nicht weiter lese:) und wir ins Gespräch kommen. Es wird ein bisschen viel Alkohol und sehr spät - dafür dass es heute von Höhenmetern her zur Sache gehen wird. Mal schauen, wie ich mich jetzt gleich in die Berge hochkämpfe ....

Sonntag, 23. August 2015

Tag 16: Meiningen - Bockstadt/Eisfeld


Es ist sonniger und trockener hier oben, trotzdem trocknet das Zelt nicht. Die Werra scheint besonderes Wasser zu haben. Zeltlerfesthaltewasser.
Macht nichts, ich bin eh eine Nachmittagsfahrerin. Auch bei trockenem Zelt komme ich morgens nicht gut weg. Es ist aber auch zu schön hier auf der Bank in der Sonne.

Als ich´s dann aber geschafft habe, empfängt mich Meiningen mit einer Wow-Innenstadt. Ich sitze auf dem Markt, trinke Kaffee, höre Orgelmusik aus der offenen Kirche und will hier bleiben. Mal wieder die Sache mit den Orten, von denen man nicht wegwill ...

Aber das Wegfahren lohnt heute. Den ganzen Tag geht es im Werratal aufwärts. Grün, so dass es satter nicht geht, Flussauen, Hügellandschaft, kleine Dörflein mit uralten Steinbrücken. Später wird das Tal enger, die Landschaft fast almenartig. Irgendwo las ich mal das Wort ¨Genussradeln¨ - DAS hier muss gemeint gewesen sein.
Irgendwo unterquere ich die A71, unsere Berlinfahrautobahn. Als Ritual schon machen wir immer in irgendeinem Thüringischen Ort Rast, ist die Hälfte der Strecke. Die nächsten 37 Male werden wir also in Meiningen Rast machen.

Erstmals, glaube ich, auf dieser Tour, vergesse ich heute die Zeit, die Kilometerzahl. Und werde langsamer, ganz von allein. Noch weit entfernt von langsam, aber ein ruhigeres Tempo. Eines, was nicht das Maximale herausholen will, sondern sich rundum stimmig anfühlt, weil ich jahrelang genauso weiterfahren könnte.
Es ist ein unselig Ding mit dem Beeilen. Unser - oder jedenfalls: mein - Leben hat das Hasten so internalisiert, dass es viel Mühe braucht, sich davon zu lösen. Heute ist es so weit, heute hat die Reise eine neue Qualität bekommen, sozusagen.
Ich sorge mich nicht mehr, wie weit ich komme, ich sorge mich nicht mehr, wo ich bleiben werde, sondern ich fahre einfach.

Irgendwann bin ich in Hildburghausen, es ist schon Nachmittag, Zeit für einen Eiskaffee - ein riesiger, unbelebter Marktplatz hält immerhin gleich zwei Cafés bereit. Ich sitze lange dort, blättere in Karte und Internet, auf der Suche nach meiner weiteren Route und Übernachtungsmöglichkeiten. Hier irgendwo werde ich vom Werraradweg abbiegen und zurück zur Deutsch-deutschen Route queren. Die Landschaft ist bergig, die Radwege schlängeln sich irgendwie, ich versuche mit dem Navi eine Strecke mit möglichst wenigen Achttausendern auf dem Weg ausfindig zu machen. Dabei das Übernachten im Auge behalten: schwierig, weil hier wieder so ein touristisches Niemandsland anbricht.

Noch völlig unentschlossen fahre ich erstmal los - und tata! - werde von einer Wespe gestochen. Nicht beim Eis, nicht beim Essen, sondern einfach so. Beim Fahren seitlich in den Fahrradhandschuh reingekrochen und zweimal zugestochen. Kann ja noch von Glück sagen, dass sie es nicht öfter getan hat, bevor ich das enge Ding ausgezogen hatte. Und dass ich nicht vor Schreck vom Fahrrad gestürzt bin. (Meine Güte, tut das weh. Mein letzter Stich war in der Kindheit, ich hatte das verdrängt.)
Weil ich die Wespe übrigens nicht aus dem Handschuh habe wegfliegen sehen, bin ich jetzt von einer irrationalen Panik besessen, dass sie da noch irgendwo drin sitzt; ich werde diesen Handschuh nie mehr anziehen:) Und meine Hand ist nun wieder komplett faltenfrei, wie zu Babyzeiten. Dass es mörderisch juckt, bedeutet ja wohl, dass es mörderisch heilt, oder?

Wie als Ausgleich löst sich wenigstens das Übernachtungsproblem wie von selbst. Immer noch unentschlossen, wo ich suchen soll, steht plötzlich ein Campingplatzschild im Weg. Ein privater Minicamping, ich ganz allein. Rufe an - der Besitzer kommt erst morgen früh zurück, ich solle mich ausbreiten, und im Nachbardorf gäbe es auch eine Kneipe. Holla, so schnell komme ich zum Alleinübernachten in einsamster Gegend. Niemand hat mich gefressen (obwohl ich bis Mitternacht noch eifrig nach akustischen Anzeichen dafür gelauscht habe). So ist es bis zum Wildzelten ja eigentlich nicht mehr weit.

Eine Episode noch: in Thüringen ist Einschulungswochenende. Schon vor zwei Jahren waren deswegen in Jena alle Hotelzimmer ausgebucht - hä?, und heute verstehe ich warum. Mädchen mit Hochsteckfrisuren, hochzeitsgesellschaftsgroße Begleitverwandtschaften, Festaktivitäten, wie man sie bei uns nicht mal beim Abitur findet. Ich bin verblüfft.
Abends dann, in der Kneipe im Nachbardorf, steht - wie in allen anderen Gasthäusern am Wegesrand - ein Schild davor: ¨Heute kein Speisenangebot¨. Ich frage nach und habe richtig vermutet: die sind ALLE mit Catering für diese Einschulungsfeiern beschäftigt. Da habe ich als simple Touristin jetzt einfach Pech.
Aber nein, ganz so schlimm ist es nicht. Im Gasthaus meiner Wahl klopfe ich mit aller mir verfügbarer Nettigkeit an die Küchentür, schildere mein Schicksal als einsame Alleinreisende und ob ich - nur ich allein - denn nicht trotzdem ein bisschen was ... und ein Bier. Und natürlich: es geht. Klar lassen sie mich nicht verhungern:)
Und während ich diese Ausnahmebehandlung genieße, fahren tatsächlich zwei PKW im Minutentakt Kofferräume voller warmer Essenskisten in die Region ...

Samstag, 22. August 2015

Tag 15: Berka/Werra - Meiningen


Das Werratal ist hier genau so feucht wie in Eschwege, warum auch sollte es anders sein. Das vom Tau tropfnasse Zelt ist vor neun Uhr gar nicht zu verlassen, schon beim Ein- und Aussteigen werde ich pitschnass. So blogge ich im Zelt, schneidersitzend, und merke, wie mich diese Sitzposition dann doch fordert, altersentsprechend:)
(Schon allein dafür, dass er dies seit Wochen, fast Monaten tut, gebührt dem Herrn Irgendlink mein höchster Respekt. Viel mehr noch aber dafür, dass er demnächst, in den nächsten Tagen wohl, das Nordkap erreicht haben wird. Sage ich mal jetzt schon so prophetisch. Ich hoffe, ich löse damit keine einschlägigen deutschen Sprichwörter über zu frühes Freuen und so aus:) Also lest das gern mit, des Herrn Irgendlinks Zielankunft am Nordkap: auf seinem Blog, oder bei Twitter.)

Während ich noch schreibe und sitze und mich an der Stille erfreue, erwachen die Hüttenbewohner nebendran - arrgs, die sind laut. So ist das eben auf Campingplätzen.
Es gibt mir heute ein gutes Signal zum Aufbrechen - so macht es keinen Spaß, weiter träumend auf der Isomatte zu liegen.

Wie schon neulich: pünktlich um 10.37 ist das Zelt trocken, und ich bin weg. Das ist natürlich spät, aber was solls.
Die nächsten Kilometer sind mir - wie die gestrigen - wohlbekannt. Jeden Stein, jeden Anblick, jeden Wegweiser erkenne ich wieder. Oder es kommt mir nur so vor, weil ich meiner damaligen Reise mit dem Sohn hinterhertrauere. Nach der immer noch gleichen Verblüffung - der Radweg mündet am Thüringen-Hessen-Übergang von einer Asphaltallee in einen reifenschmalen Schotterstreifen (obwohl es in Hessen sonst eine wunderbare Radwegkultur gibt) - und einem Eisbecher mit Blick auf Kaliberg und Hauptstraße komme ich bald an den ¨Scheideweg¨. Rechts könnte ich weiterfahren wie damals, in fünf Tagen wäre ich zu Hause. Links geht es auf unbekannte Wege: in x Tagen zum Dreiländereck.
Alte Weg sind gut, weil sie wärmende und nährende Erinnerungen wachrufen.
Alte Wege sind nicht gut, weil sie vom Neuschauen abhalten.
Ich wähle die unbekannte Route, klar.

Und fliege zunächst ein paar Kilometer auf den eben gepriesenen hessischen Wegen. Halte nur an für ein paar Fotos. Und das nächste Mal dann in Bad Salzungen. Den Kopf in das äußerst kühle Gradierwerk stecken, durch die Altstadt schieben, an einem Rostbratwurststand hängenbleiben, mit Vita-Cola dazu, und einem Verkäufer, mit dem ich lange spreche über unsere damaligen und heutigen Wege - so kann es gehen an nem simplen Bratwurststand:)

Es ist spät geworden, nach vier, als ich aus Salzungen wegkomme. Bis Meiningen noch 40 km. Aber mich zieht es dahin, weil dort der vermutlich letzte Campingplatz auf der geplanten Route liegt. Ein letztes Mal im Zelt schlafen, das brauche ich noch.

Der Weg ist leider verkehrsreich, industrienah, schlecht ausgeschildert. Die Wegsuche nimmt einen beträchtlichen Teil des Nachmittags ein. Ich frage mich so von Dorf zu Dorf durch. Die Menschen sind aber auch seeehhhr hilfsbereit. An so manchem Gartenzaun könnte man hier verweilen. Und unabhängig vom Weg wäre hier ohnehin ein gutes Bleiben. Rechts die Rhön, links der Thüringer Wald.

Ich bleibe aber nicht, ich will nach Meiningen. Als ich es kurz nach sieben am Horizont erblicke, sehe ich: Platte. Och neee, wie konnte man solche Brummer in eine solche Landschaft stellen. Es krausen sich einem die Fußnägel.
Aus der Nähe dann fallen die Riesenhäuser am Berg nicht mehr weiter auf, dafür Industrieanlagen, ein scheinbar vereinsamter Bahnhof, enge Straßen und ein Polizeiauto, das mich darauf hinweist, doch bitte den Radweg zu benutzen. Upps. Auch den hatte ich übersehen, mangels Beschilderung. Hätte ich den Polizisten eigentlich gern noch hinterhergerufen.

Und - wie sollte es anders sein - der Campingplatz liegt auf dem Berg. 12% Steigung steht an der Hauptstraße. Das ist mir zu viel. Ich steige ab, schiebe, blinzele in die Abendsonne ... und freue mich aufs Ankommen. Nett, wenn an der Rezeption ne Frau sitzt, die mir schon Empathie für die Hochschufterei entgegenbringt, bevor ich noch jammern kann:)

Fürs Schwimmbad - gleich nebendran - ist es leider zu spät. Nach Zeltaufbau reicht es aber noch für die Kneipe, eine Soljanka, ein Rostbrätl, ein Weizen. Nein, falsch:  zwei Weizen.
Dusche, Schlafsack, Traumwelt.
Ein guter Tag.

Freitag, 21. August 2015

Tag 14: Eisenach - Berka/Werra


Für einen Ferientag, eine Radpause zudem, beginnt der Tag früh. Will ich doch um 9 Uhr vor dem Radladen stehen. Dank Wecker schaffe ich das (fast: 7 Minuten; ein anderer Kunde hatte sich schon vor mich gedrängelt:)). Es braucht eine Totaltransplantation der Bremse und Austausch dessen, was am Lenker sonst noch demoliert ist; ich kann das Rad mit allem Gepäck dalassen: gegen 15 Uhr wäre das sicher fertig.

Und so stehe ich plötzlich radlos auf Eisenachs Straßen, fühle mich ein bisschen nackt, wie ich da so unbeschwert durch die Fußgängerzone bummele, und tue all das, was mit Rad immer ein wenig kompliziert ist. Drogerie, Apotheke, Geldabheben - und dann öffnet auch schon das Museum.

DAS Museum. Wegen dem ich hierher abgebogen bin. Ich lasse mich hineinfallen. Mehr kann ich dazu gar nicht schreiben. Was die Musik mir ist - DIESE Musik - das findet sich in der Wortsprache nicht wieder, das versuche ich gar nicht erst.
Das kleine italienische Mädchen, das bei der Instrumentenvorführung so gebannt zuhört und dann irgendwann dem Impuls in sich nachgibt zu tanzen, zu jedem Stück auf andere Weise, das drückt einen Teil davon aus. (Und wer von diesen Tänzen genervt ist, der sollte in ein solches Museum nicht gehen. An die augenrollenden Touristen gerichtet ...)
Meine Sehnsucht nach dem Klavier wächst, und nach der ersten Chorprobe. Wobei mir mal wieder bewusst wird, dass mir dies einerseits nicht genug ist, und dass andererseits schon diese beiden kaum in meinen Alltag hineinpassen. Obwohl jetzt ein paar Deputatsstunden weniger auf dem Plan stehen (den ich übrigens vor ein paar Tagen im Internet fand: macht unser Stundenplanmacher eigentlich auch mal Urlaub?) Jedenfalls: ich weiß, worauf ich mich freue, wenn ich nach Hause komme:))
Der Besuch endet mit einem Picknick auf den Treppen vor Bachs Geburtshaus und einem kleinen Einkauf im Museumsshop (eine letzte Ritze in der Packtasche findet sich immer noch). Solange darf mein Handy freundlicherweise an der Kasse Saft tanken; fast hätte ich es dann dort vergessen.

Mein Radl ist fertig, ich bin begeistert über den Service, alle Packtaschen stecken schon wieder dran, und ich mache mich sofort auf den Weg. Witzig, dass wir das vor zwei Jahren mit dem Sohn auf der Berlin-BaWü-Tour ganz genau so gemacht hatten. Ewig im Museum versumpft, und dann gegen drei Uhr weg. Und auch damals waren wir noch bis Berka/Werra gekommen, etwa 40 km. Heute habe ich mir dort einen Zeltplatz ausgesucht, damals war es eher Zufall.

So unterschiedlich, wie sich die Strecke anfühlt. Zwar erkenne ich wie schon gestern jeden Stein, jede Steigung, jedes Haus, jeden Blick, doch damals mühten wir uns ab - mit Anhöhen, mit Müdigkeit, mit Nichtmehrwollen, mit Kann-nicht-mehr-Rufen. Das weiß ich noch zu genau.
Heute ist alles einfach. Weil ich den Weg kenne? Weil der Wind ein anderer ist? Weil es eben doch anstrengend ist, ein schwächelndes Kind immer wieder zu motivieren, dass der Berg doch gar nicht hoch sei? (Wobei ich bei letzterem eher das Gefühl habe, dass sich die Anstiege dadurch für mich leichter anfühlen, interessanterweise).
Aber die wehmütige Erinnerung an die Tour damals, die drückt ein wenig. Wir hatten eine sehr gute Zeit miteinander in diesen zwei Wochen, waren uns sehr nah, haben viel geredet - und die Pubertät war noch nicht ausgebrochen:) Ach was, ich trauere nicht der Jungseinszeit des großen Kindes nach, sondern bin nur noch nicht ganz fündig geworden auf der Suche nach neuen Kommunikationswegen und -formen, die jetzt gefragt sind. Im Moment ist er sooo wortkarg mit mir, da hätte ich gern wieder die Plappertasche von damals an meiner Seite:)

Damals jedenfalls waren wir von einem Gewitter eingeholt worden. Zogen uns unter einer Brücke die Klamotten an und hofften auf irgendein ¨Zimmer frei¨-Schild in Gerstungen, wie sie sonst zu tausenden an Radstrecken stehen. Nur hier - keines. Letztlich fanden wir im halbdunklen Regendickicht ein schmales Vordach und setzten uns mit klammen Fingern und unserm Telefon darunter - bis wir in Berka unterkamen. Heute fahre ich genau an diesem Vordach vorbei: daran hängt hinten ne olle DDR-Turnhalle. Da die Plattengebäude ja im ganzen Land identisch aussahen, kann ich sagen: in so einer hatte ich auch vier Jahre Schulsport!
(Ach so: das hier ist übrigens der Eisenach-Berka-Tag von vor zwei Jahren.)

Heute habe ich meinen Zeltplatz im Visier und bin kurz vor sechs Uhr schon da. Eigentlich ist es ein Kanuverleih, ein paar Übernachtungshütten dazu, und eine Wiese zum Zeltaufschlagen. Ich bin heute die einzige, suche mir ein kuschliges Eck, platziere mich zwischen Kräuterbeet und Liegestühle - und damit ist der Tag dann auch gelaufen. Im Liegestuhl liegend-dösend, Himmel betrachtend, der Kindergeburtstagsfeier am Lagerfeuer zuhörend, gerade noch ein paar Bissen essend, ansonsten aber einfach nur da liegend, stundenlang - so endet der Tag.

Donnerstag, 20. August 2015

Tag 13: Eschwege - Eisenach


Nein, Eisenach liegt nicht am Grünen Band. Ganz richtig: Ich bin hier nicht ¨richtig¨. Und doch ... hat dieser Weg sein müssen.

Vielleicht beginnt alles damit, dass ich frühmorgens aus Instinkt mein Zelt lieber trocken einpacken will. Obwohl mein Ziel ein weiterer Zeltplatz an der Werra ist - da packt man es ja nach wenigen Stunden wieder aus. Trotzdem. Ich harre geduldig aus, bis der Nebel, der um 9 noch genauso dicht ist wie um 6, sich um 11 endlich verzogen hat. So dass ich die einzelnen Zeltschichten nach ein wenig herumwedeln trocken in den Packsack stecke.

Der Tag beginnt also trödelig, ich verbringe noch eine weitere Stunde in Eschwege, einkaufend, schlendernd, Kaffee trinkend, und komme auch danach nicht so recht in Fahrt. In innere Fahrt schon, denn die hervorlugende Sonne und die Werra-Auen und die Fachwerkstädtchen legen meinen Gedanken ein permanentes Liedchen auf die Lippen. Wenn ich an das Jetzt denke, an das Fahren in diesem Tal, an das radfahrende Herumbummeln, das ich heute betreibe.

Anders wird es in mir, wenn ich an die kommenden Tage denke. Der Weg führt wieder vom Fluss weg, in bergige, verlassene Gegenden hoch, zumal in solche, die mir nicht vertraut sind. Die Ecke um Gerstungen und Heringen wird die letzte sein, in der ich schon jemals war.
Und ich bemerke in mir ein Zählen: der verbleibenden Tage, der verbleibenden Kilometer, der Höhenmeter dazu - das wird knapp, wenn ich in einer Woche am Dreiländereck stehen will. So knapp, dass mir eigentlich die Freude vergeht, weil ich von jetzt an nur noch hetzen und durchhasten müsste. Mit stetem Blick auf die Uhr ist kein ruhiges Anschauen, kein ruhiges Gespräch mehr drin. So will ich das nicht. Es fehlen einfach die paar Tage vom Anfang, als wir krank waren - aber das soll jetzt nicht meine Reise kaputtmachen.

Während ich also durch die traumsanfte Landschaft schwebe, wühlen sich Reiseroutenänderungspläne durch meinen Kopf.
Hinter Heringen abbiegen, so wie damals, als wir von Berlin nach Hause gefahren sind - die Strecke könnte ich noch auswendig - und dann pünktlich Anfang der kommenden Woche zu Hause sein?
Oder rein nach Thüringen, welches ohnehin mein Lieblingsseelenbundesland ist, unsere damalige Tour rückwärts, ergänzt um den Bachradweg um Arnstadt, so lange eben die Zeit reicht?
Oder so lange auf dem Grünen Band fahren, bis die Zeit um ist, ohne am Ende Hof zu erreichen?

Alles dreht sich noch in mir, als mir am Rastplatz ein Schild in die Augen springt. Darauf die Antwort: Klar, naheliegend - die Werra weiter hinauffahren. Noch viele viele Kilometer Thüringen - hach! - durch Bad Salzungen und Meiningen - hach! - und bei Eisfeld wieder auf das Grüne Band treffen. Man schneidet damit sozusagen den Südwestzipfel Thüringens ab, verkürzt einige Kilometer und auch Höhenmeter. So sieht meine Lösung aus. Einfach auf diesem wunderbaren Weg bleiben. Und ob ich dann am Ende noch bis Hof gelange ... das ist egal.

Denn der nächste Plan lugt schon um die Ecke. Seit Stunden stehen da diese Eisenach-Schilder am Wegesrand.
Eisenach. Bachhaus.
Wir mit dem Sohn vor zwei Jahren, auf unserer Berlin-Tour. Wie wir in diesem Museum versunken sind, weil man sich an jeder Ecke in die Musik fallen lassen konnte.
Die Musik ... die Musik ... pocht es bei mir an. Da ist eine Traurigkeit in mir - eine, die weder mit der Reise noch konkret mit meinem Sein dieser Tage zu tun hat - eine tiefe Traurigkeit, die durch nichts so sehr getröstet wird wie durch Bachs Musik.
Ich - hier sooo lange schon ohne Musik unterwegs - spüre eine solche Sehnsucht, dass ich gar nicht mehr anders kann, als heute nach Eisenach abzubiegen. Der Zeltplatz an der Werra wartet auch morgen noch auf mich. Ich brauche jetzt genau diesen Umweg. Merke ich, als ich auf dem Markt in Treffurt einen Rieseneisbecher löffle. ... Und suche mir also - mangels Zeltplatz - ein Zimmer in Eisenach.
Dass dieser Schlenker richtig ist, merke ich an den Tränen, die mir jetzt beim Fahren fließen. Vieles löst sich. So soll das sein auf Reisen. Es tut immer auch weh, sich selbst so ganz schonungslos gegenüberzustehen ...

Gedankensinnend bin ich plötzlich an der Abzweigeecke. Hier stand ich damals mit dem Sohn auch. Nur in der umgekehrten Richtung, nach unserem Bachhaustag. Ich fahre das Damals zurück in der altvertrauten Spur. So sehr erinnere mich an jede Kurve, das ist schon verblüffend. Ich erinnere mich auch, genau dieses Stück Weg aus dem Zug gesehen zu haben - sicherlich oft schon, aber einmal ganz bewusst. (Hier schrieb ich davon.)

Und dann geschieht noch etwas Verblüffendes. Nicht DASS es passiert - ewig schon wundere ich mich, dass es bisher immer glatt geht - sondern dass es HIER passiert. Wo ich doch morgen in der Stadt die Möglichkeit habe, alles reparieren zu lassen. Nicht auszudenken, auf dem tiefsten Land, wo ich die ganze Zeit war ...
Jedenfalls: ich kippe mit dem Fahrrad um. Nein, nicht stürzen, umkippen. Während ich stehe.
Die Geschichte dazu ist ganz einfach: ich bin eine Falschschieberin. Ich schiebe auf der rechten Seite vom Rad, ich steige von rechts auf, ich halte mit dem rechten Fuß an, ich steige nach rechts ab. Das ist - gemessen am Normalen - die falsche Seite. Für mich aber die einzig richtige. Von links zu schieben oder aufzusteigen, führt zu unweigerlichem Torkeln und Radnichtbeherrschung - das lasse ich lieber bleiben. Damit wäre ich im Leben schon tausendmal gestürzt, das werde ich nicht mehr lernen.
Im Unterschied aber zu Linkshändern (für die man spezielle Scheren, Stifte etc. kaufen kann) gibt es für Menschen wie mich keine Rechtsschieberäder. Fatal. Denn auch an meinem Rad ist die Schaltung rechts und - jetzt kommt´s - der Ständer links. Der Ständer LINKS! Wo ich doch aber rechts schiebe und stehe. Wie bitte soll ich von dort aus den Ständer ausklappen???
Ja, das hat sich niemand so richtig überlegt. Mir bleibt nur eine von drei Möglichkeiten:
1) schon vor dem Absteigen mit dem linken Fuß den Ständer von hinten nach unten zuppeln, häkelnadelartig - diese Variante scheidet im Moment wegen störender Gepäcktaschen aus;
2) hinten um das Fahrrad herumlaufen, es dabei mit vorgebeugtem Oberkörper am Sattel halten und vor dem Umkippen bewahren, und dann den Ständer mit dem Fuß ausklappen wie jeder normale Mensch auch - das ist bei so viel Gepäck allerdings eine schwierige Angelegenheit;
3) mich mit dem Oberkörper über das Rad beugen (ich fahre ein Herrenrad) und den Ständer mit der linken Hand ausklappen, während die rechte das Rad und das Gleichgewicht hält. Das sieht vermutlich so lustig aus wie es klingt und ist bisher in meinem Leben immer gut gegangen.
Heute also erstmals nicht. Volle Kanne knalle ich zusammen mit dem Rad auf den Asphalt. Aus dem Stehen tut das nicht weniger weh. Dass es mir erstmals im Leben passiert, tröstet nicht wirklich.
Denn im Gegensatz zu der Kamera, die ich beim Fallen noch hochhalte, bekommt der Lenker das gesamte Fallgewicht ab. Lenkerhorn und Bremsgriff abgebrochen. Großer Mist. Ob man die Lenkstange dann besser auch austauscht, das werden die morgen im Radladen entscheiden. Und hoffentlich fürs Reparieren nicht länger brauchen als ich im Bachhaus? (Ein paar Däumchen, bittedanke.)

Einbremsig und sehr behutsam kutschiere ich mich also in die Stadt. Glücklicherweise war dies nicht auf einem der hohen Berge passiert - ich hätte mich wohl nur noch im Schritttempo, wenn nicht schiebend hinuntergewagt.
Finde mein Zimmer, guugele die Radläden, finde einen, der gleich um 9 öffnet, werde davorstehen, ganz lieb bittend schauen - und dann hoffen.

Der Rest des Abends ist Bummeln durch die menschenleere Stadt. Wie gespenstisch sie abends wirkt, das war mir vor zwei Jahren schon aufgefallen. Und wie belebt dagegen tagsüber, das auch.

Und jetzt also: Bach. Und wenn die mein Rad einschläfern müssen. Mir bleibt: Bach. Ich froi mich so ....

Mittwoch, 19. August 2015

Tag 12: Duderstadt - Eschwege


Ich sitze hier morgens in meinem Zelt, ringsum dichter Werranebel, hin und wieder Entengeschnatter, aus der Ferne das dumpfe Rauschen einer Stadt. So etwa fühlt es sich in meinem Kopf an. Wenig zu sehen, viel zu ahnen, ein paar Laute, wenig Struktur. Ein Wattegefühl der guten Art. Und weil das heute so ist, erlaube ich mir über den gestrigen Tag nur in ein paar Wortgruppen zu erzählen. In Erzähltüpfchen sozusagen.

* losgefahren von der Herberge, obwohl es regnete, obwohl ich dort gut hätte bleiben können
* Stadtschlenderei in Duderstadt: Fotos, neue Radhandschuhe, Brille fester schrauben lassen (die kleinen Notwendigkeiten am Wegesrand, dabei vergessen Geld abzuheben und bis zum Abend keinen Automaten mehr getroffen, woraufhin ich jetzt bis auf ein paar Cents ...)
*Regenzeug, nassgeworden, erste Hügel hinaufgekeucht - bis irgendwo oben der Regen plötzlich weg war und auch nicht mehr wiederkam
* ermüdet vom vielen Auf und Ab, so schön es hier ausschaut, ein paar weniger Anstiege bittedanke ...
* oder wenigstens Rastplätze oder Bänke - unterwegs treffe ich Radler, die ihre Äpfel im Stehen essen - so weit bin ich noch nicht, ich warte und hoffe und picknicke schließlich erst gegen 4 unten an der Werra (wo es alle 100 m Bänke gibt - nicht vorzustellen, was hier in der Hochsaison los ist)
* nun also darf ich für 100 km im Werratal radeln, heute und morgen: wie erholsam, brettl-eben, Radfahrerasphalt, Beschilderung - ohne es zu merken, fließe ich nochmal 30 km weiter, so weit wollte ich gar nicht:)
* überflutete Radwege übrigens an der Werra, und ein Seitenflüsschen von der Leine hat es am Wochenende völlig aus den Ufern geworfen, dort wurde ein Dorf überschwemmt, die Felder lagen voller Hausrat
* ein paar Begegnungen: eine Frau, die lange Wege in Europa gewandert ist, und eine, die von der Atlantikküste nach Tschechien radelt und zurück, und dieses und jenes kurze Gespräch am Wegesrand
* kommt es mir nur so vor, oder lächeln die Leute hier alle? oder bin ich es, die lächelt, und dann kommt es zurück?
* abends einen Campingplatz am Wegesrand finden (na gut, ich hatte vorher schon auf die Karte geschaut:)), direkt am See sein Zelt aufbauen, auf einer Terrassse mit Seeblick ein Bier trinken, das unglaublichste Abendrot der Welt vor Augen ...

So war es gestern.

Dienstag, 18. August 2015

Tag 11: Sorge - Duderstadt


Für heute ist mir die Neugier abhanden gekommen - mit diesem Gedanken erwache ich. Ich möchte einfach nicht mehr wissen, wie es hinter der nächsten Ecke aussieht. Ich möchte nicht wissen, wie es in Hohegeiß, in Walkenried und in Duderstadt aussieht. Eine Motivationskrise. Liegt es am Nieselregen vor dem Fenster, oder weil ich gern in diesem Haus, in diesem Wald bleiben würde, oder weil von jetzt ab kaum noch ein Ort kommt, der mir vertraut ist?

Und doch stehe ich natürlich auf, frühstücke, packe und belade das Fahrrad. In diesem Moment - spätestens - passiert immer das Erstaunliche: Es zieht mich nur noch auf den Sattel. So als könnte ich jetzt nirgends anders sein.

Ich fahre also los ... und erinnere mich, wie wir 1984 zur Klassenfahrt in Thüringen waren. Unser Lehrer wollte mit uns wandern, und wir - pubertierend - wollten natürlich nicht. Schoben den Regen vor. Er so: ¨Es regnet nicht, wir sind nur in einer Wolke.¨
Das fällt mir heute wieder ein. Vermutlich bin auch ich hier in einer Wolke, so fein wie das Feucht sprüht. Und der Wald ist in einer Wolke, und die Wiese, und alles. Eine gespenstische Stimmung, ein Harz-London sozusagen. Wenigstens keine Hexe kommt des Wegs.

Dafür eine Grenzkaserne, eine ehemalige. 130 Soldaten, zuständig für ein Revier von 13 km Grenze, lese ich. --- Die Jungs, mit denen wir 1984 die Wolkenwanderung verweigerten, die mussten alle zur Armee. Später. Aber schon lange vor dem Ende der Schulzeit, schon als wir so 15-16 waren, begannen die Gespräche, begann die Musterung.
¨Bloß nicht an die Grenze¨, beteten sie alle. Keiner konnte sich vorstellen, dort zu stehen und dem Schießbefehl ausgeliefert zu sein. Wer dann später tatsächlich an die Grenze musste, weiß ich nicht.
Ich weiß aber, wie oft dies ein Thema bei uns war, in der Klasse, in der Jungen Gemeinde, unter Freunden. Alle hatten Angst. Welche Wege es gäbe: nicht schießen, in die Luft oder vor die Beine oder daneben schießen. Und wieviele Jahre Schwedt es dafür gab - jeder hatte schon irgendwas gehört. Wie gesagt, 15-16 waren wir, als uns dies zum Thema wurde, so allmählich.

30 Jahre später stehe ich vor dieser Kaserne in meinem Erinnerungsfluten.
Wie wir Mädchen ebenfalls systematisch zu Gesprächen geholt wurden. Auf welche Weise wir unseren Freund überzeugen könnten, damit er drei Jahre zur Armee geht. (Anderthalb waren Pflicht, drei freiwillig.)
¨Und wenn ich ihn davon gar nicht überzeugen will?¨ - Diese Frage kostete an anderen Schulen den Abiturplatz. An meiner, das haben wir damals wohl gar nicht genug zu schätzen gewusst, waren etliche Lehrer, die uns schützten, die sich vor uns stellten, die für uns bürgten, auch wenn wir solche Antworten gaben. Wir haben unseren Lehrern dafür wohl nie gedankt. In den ersten Jahren nach der Wende sahen wir uns nicht auf Schultreffen, später hat es sich nicht ergeben, und heute sind viele von ihnen tot. Ein Versäumnis, das ich sehr bedaure. Wie wichtig es war, geschützt zu werden, in diesem Land.

Ich fahre irgendwann weiter, immer bergauf, und die Erinnerungen reißen nicht ab. Wehrlager, regelmäßig ab der 9. Klasse. Wir Mädchen meist in der Schule, die Jungs mussten in der 11. nach Prora, in eines der KdF-Gebäude.
Wir dann fuhren erst im Studium ins Lager, im dritten Semester. Nach Eckartsberga, fünf Wochen lang.
Kriechen im Matsch, Nachtmärsche mit Gepäck und Gasmaske, Polieren und Schwarzcremen der Stiefelsohlen, Zimmerappell nachts um 11, weil die Gasmasken nicht ordentlich geputzt waren (¨Genossin, da wächst schon der Pilz!¨). Wie wir die Atomanzügenorm nie schafften und deswegen heimlich die Knopflöcher größer feilten, damit wir in der Normzeit bleiben und nicht immer den Ausgang verweigert bekamen. Wie sie uns ernsthaft erzählten, nach einem Atombombenabwurf solle man sich zum Schutz hinter eine Bordsteinkante legen. Wie überhaupt diese Politausbildung nicht und immer weniger zum Aushalten war - selbst für diejenigen von uns, die eigentlich in dem Land ihre politische Heimat gefunden hatten.
Wie wir während des langersehnten Ausgangs am Samstag einfach über die Felder liefen - stromernd so wie ich jetzt - Hauptsache in einen anderen Ort, in ein Omacafé, für ein paar Stunden unter normalen Menschen sein, wie wir dann aber trampend nicht schnell genug zurück waren und wegen der Verspätung gleich den nächsten Ausgang gesperrt bekamen. Wie ich heilfroh war, eines Morgens mit herausgefallener Zahnfüllung aufzuwachen, so dass ich statt Frühsport gleich zum Arzt und dann ins Dorf zum Zahnarzt durfte (auch Bohren ohne Spritze war besser als all das). Wie wir - ein bisschen und ganz naiv natürlich - die Kommilitonin beneideten, die mitten im Lager feststellte, dass sie schwanger war und deswegen abreisen durfte. Wie wir alle uns in unsere Bücher vergruben, wann immer Zeit war - die Buddenbrooks, der Zauberberg, die russischen Klassiker, an die erinnere ich mich aus unserem Schlafsaal - um nicht verrückt zu werden.

Es flutet mich. Bis ich plötzlich oben bin. Hohegeiß. Mit dem Verlassen des Waldes lässt mich das heftige Andrängen der Vergangenheit los. Plötzlich stehe ich wieder einfach nur im Regen, ich auf meiner Radreise. Gut so.
Die Wolke wolkt inzwischen sehr. Ich fahre durch Hohegeiß ohne anzuhalten, will runter ins Tal, in der Hoffnung, dass Wolken nicht so tief reichen.
360 Höhenmeter Abfahrt auf der Straße - na, in umgekehrter Richtung möchte ich die Strecke ja nicht nehmen. Für mich heute ist es genau richtig. Der WInd bläst meinen Kopf frei. Ein kleines Bobfahrergen erwacht in mir.

Stoppen kann mich erst Walkenried. Ein Kloster sei hier, das sich lohne, hatte man mir oben gesagt. Ich fühle mich von der Trotzigkeit der riesigen Mauern eher erdrückt, zudem lärmen verschiedene bauarbeitende Menschen in einer Vielzahl an Frequenzen herum, der Klosterhof mit dem Untertitel ¨Japanisches Restaurant¨ lockt mich nicht - sicherlich aber bin ich im Moment nur überhaupt nicht in der Stimmung, mich auf ein Kloster einzulassen. Trinke einen Milchkaffee, ein Stück Kuchen dazu, und gleich wieder hinaus in den Regen.

Dieser hat sich mittlerweile von einem radlerfreundlichen Nieseln zu einem respektablen Dauerschütten entwickelt. Mit Ignorieren komme ich nicht mehr weiter, es hilft nur die Regenmontur, Schritt für Schritt. Da ich jedes Teil immer ein paar Minuten zu spät anziehe, bin ich darunter immer schon nass.
Macht aber nichts, denn beim Bergauffahren werde ich dies sowieso. Ja, diese Kombination aus Regenzeugs und Bergfahren ist schwierig. Hinaufzu so schwitzen, dass ich durch die beschlagene Brille die Welt nicht mehr erkenne. Hinunterzu erbärmlich frieren. (Erstmals auf dieser Reise friere ich, tatsächlich.)

An Fotografieren ist kaum noch zu denken, weil mir beim Öffnen der Fototasche alles - Handy, Geld, Kamera - nass wird. Also freue ich mich bilderlos, lasse mir das Schauen nicht nehmen. Und dieses ist so wunderbar. Ich trage reiche Bildschätze in meinem Kopf. Der Hintergrund stets nebelverhangen, das Grün satt, im Vordergrund Blumenwiesen, Felder, regenschwere Zweige, all das. Im Regen ist alles so still. Selbst die Autos klingen gedämpft. Ich höre den Regen, wie er auf mich tropft, das Wasser, wie es unter den Reifen pfeift, und mich, wie ich ... plötzlich singe. Ja, da staune ich selbst. Es passiert einfach.

Was das Übernachten angeht, mache ich mir lange keine Gedanken. So lange wie selten. Ich werde eben mutiger und lasse das Planen los. Als ich dann kurz vor Duderstadt doch mal im Wanderführer blättere, steht da ein Jugendgästehaus. Ich rufe an, eigentlich schließen sie gleich, suchen aber - unglaublich freundlich - nach einem Weg, mich zu meiner Ankunftszeit noch hineinzulassen, indem jemand nach Feierabend vorbeigefahren kommt. Mensch, ich bin begeistert. Und von dem Zimmer erst ...
Zimmer? Ich habe einen ganzen Pavillon für mich. (¨Ich hab Sie allein gelegt, damit Sie Ihre Ruhe haben.¨) Und nicht nur Ruhe: Vor meinem bodentiefen Fenster öffnet sich der Blick auf eine Wiese und Bäume, es ist stiller und ländlicher als auf so manchem Zeltplatz ...
Wenn der Gästehausmensch wüsste, wie ich mich beschenkt fühle durch genau dieses Zimmer .... das muss ich ihm morgen unbedingt sagen.

Und dann: all mein Geraffel zum Trocknen ausbreiten, das Fahrrad hätscheln (das leistet schließlich Großartiges, treu und immer dem Regen ausgesetzt), in die Stadt spazieren, durch die alten Fachwerkgassen, den Regen kaum mehr wahrnehmen, einen Imbiss finden, mit den Kindern telefonieren (die morgen nach Italien fahren) und durch die regennasse Nacht zurücklaufen.

Morgen früh wird mich das Grün wecken. Und ich werde - Regen hin oder her - weiterfahren. Alle Wetterdienste sagen, dass es im Süden besser sei, während hier noch weitere 24 Stunden Dauerregen angesagt sind. Ich hoffe, sie haben Recht, so dass ich morgen Abend nicht so eingeregnet ankommen werde wie heute. Wo auch immer das sein wird.

Montag, 17. August 2015

Tag 10: Ilsenburg - Sorge


Sorge? Nein, ganz im Gegenteil. Der Ort, in dem ich hier gelandet bin, hat - für mich -mit Sorge nichts zu tun (von der Namensentstehung her wohl schon, aber man weiß es nicht genau).
Jedenfalls fand ich rechtzeitig diese Herberge, in der ich gerade sitze. Draußen gewittert es mal wieder. Und strömt. Woraufhin ich ein Zimmer dem Zelt vorzog. Ihr wisst das schon.

Hier - in der Herberge - pulsiert das Leben. Eine kommunenartige Pension, erst vor wenigen Monaten eröffnet, in der sich eine illustre Gesellschaft (positiv gemeint) von Wirtsfamilie und Feriengästen in einem ¨Wohnzimmer¨ niedergelassen hat, lacht, sich unterhält, isst, trinkt, all das. Geschichten schweben durch den Raum. Jeder Reisende bringt welche hierher. Der Pensionswirt aber mit seiner eigenen Geschichte (wie es ihn in dieses 85-Seelen-Dorf verschlug, wie dieser Ort ihn fand) ist die gute Seele des Zusammenseins. Wunderbar lebendig. Hier könnte ich bleiben. (Radfahrend fährt man ja immer weiter. Trotzdem gut, an Orten zu landen, von denen man eigentlich nicht mehr wegmöchte.)

Und wie verschlägt es mich hierher? Zufällig einerseits. Die Pension liegt einfach am Wegesrand. Andererseits bin ich reif zum Ankommen. Und der Regen ist reif zum Abregnen. Perfect match also.

Mitten im Harz. Früh bin ich da. So dass noch Zeit für eine kleine Ortswanderung bleibt, mit Sitzpausen auf allen Bänken am Wegesrand. Nicht, weil ich das nach jeden 100 Metern gebraucht hätte. Sondern, weil der Blick ins regenverhangene Grün mir gut tut.

Der Tag vor der Ankunft ist sportlich. Ich habe Respekt vor dem langen Anstieg. Habe aber von vergangenen Touren die Erfahrung im Gepäck, dass ich jede Höhe schaffen kann, wenn ich nicht wie die Schlange aufs Kaninchen starre.

Mal abgesehen davon, dass eine Alpenüberquerung für mich trotzdem nichts wäre. Die sportliche Herausforderung jedenfalls ist es nicht, die ich auf meinen Touren suche. Gern umfahre ich Berge. Nur liegt der Harz so mitten quer auf dem Grenzpfad, dass nunmal kein Weg dran vorbei führt.

Die Akzeptanz des Seienden, die Hingabe an das Jetzt seien der Schlüssel, schreibt mir die liebe sofasophia heute in einem Kommentar, der so mitten ins Zentrum trifft. Ja. Genau so denke ich heute beim stundenlangen Bergauffahren auch. Das Nein zum Berg macht ihn hoch. Und das Wollen, das unbedingte, das ermattet mich. Lasse ich es laufen, geht es. Hm - laufen, gehen. So treffend für heute. Denn ich erlaube mir abzusteigen, zu schieben, wenn es dran ist. Und Pausen einzulegen, wenn es nicht weiter geht. Ohnehin kann ich mich an jeder beliebigen Stelle im Wald niedersetzen und da sein. Also da, wo es am besten ist: in der Ruhe dieses tiefgrünen Waldes. Heute ist alles leicht.

Viel mehr war schon nicht an diesem Tag. Ein paar kurze Gespräche am Wegesrand. Ein paar wohlige Erinnerungen am Bahnhof Drei Annen Hohne. Und die Dampflok dazu. Ein paar Gedanken zu dem Lärm, den ich mache. Ja, wirklich, im Wald bin ich laut. Reifen auf Schotter in der Waldesstille sind Lärm. Die Wanderer tun mir leid. Ich durchkreuze ihre Sonntagswege mit meinem Heranrauschen. Darum versuche ich fast zu schleichen. Trotzdem stecken sie mich wohl in einen Topf mit den Mountainbikern, die hier durchpfeifen, schauen genervt, grüßen nicht. Eine Art stiller Krieg? Wirklich - nirgendwo bin ich so wenig (zurück)gegrüßt worden wie hier.

Das macht aber nichts. Heute macht mir nichts etwas aus. Einen ganzen Tag lang im Wald zu sein ist Frieden genug.

Sonntag, 16. August 2015

Tag 9: Schöningen - Ilsenburg


Wie gegensätzlich Tage sein können. Wie anders als der gestrige dieser Tag daherkommt. Vielleicht muss das ja so sein? Ebbe und Flut, in stetem Wechsel, das eine das andere bedingend.
Heute keine Gedankenströme mehr in meinem Kopf, keine schnelles Hin- und Herswitchen zwischen den Themen, keine Pointen und Metaphern, kein Reflektieren dessen, was ich da tue: fahren, eilen, schleppen, mich anstrengen.

Sondern: ich fahre. Nicht mehr und nicht weniger. Das Wort ¨eingefahren¨ trifft es. Nach etlichen Tagen auf dem Weg ist dieser fließend geworden. Ohne nachzudenken, ohne zu wollen, ohne ständigen Blick auf Tacho und Ziel - fahre ich. Oder besser: fährt es. So fühlt es sich an. Nicht dass nicht hier und da ein Zipperlein zu spüren wäre, der Popo, die Finger, der Nacken. Ich bemerke das, aber ich wende dem nicht meine Aufmerksamkeit zu. Jedenfalls nicht lange. Ebenso wenig wie dem heutigen Untergrund, den ich im Nachhinein miserabel nennen würde. Alle Varianten der Radwegmisere sind vertreten, von Klebeschotter über Betonbohlenrumnpelpumpel bis zu Auf-und-Ab-Spring-Asphalt. Doch es stört nicht mehr. Ebenso wenig wie der Wind und das heute dominierende Bergauffahren. Oder die Tatsache, dass der Radwanderführer hier an etlichen Ecken so schlecht beschreibt, dass ich den ¨richtigen¨ Weg einige Male verliere. Somit bekommen andere Wege die Chance, zu richtigen zu werden. Ganz allein bin ich auf den Feldern (auf die ich ohne Verfahren nie gefunden hätte), zwischen springenden Rehen, Hasen und Mäusen, mit Blick in die Weite, auf den Brocken - wie kann das anders als richtig sein.
Es fährt sich einfach. Ich weiß gar nicht, was ich darüber noch erzählen soll.

Ich bin zufrieden, dass es so rund ist, das Ganze. Und dass sich so wenig in meinem Kopf abspielt, auch damit. Befreiend fast, dass es in mir auch mal schweigt, dass ich nicht permanent etwas formulieren möchte.

So viel, so wenig kann ich von heute erzählen. Vielleicht noch von den wenigen Pausen - bei Tröpfelregen unter Bäumen, um die Zeit zum Apfelessen zu nutzen; in Hornburg in Form von langsamem durch die Gassen treideln (aber Absteigen wollte ich nicht), an der Grenze in Mattierzoll, um mir die unfassbaren Dimension der Grenzanlagen vor Augen zu führen. Ich fahre mit dem Rad vom ersten bis zum letzten Zaun, das ist sehr weit.

Und vom Ankommen kann ich erzählen. Dass mich das Gewitter heute wieder kurz vor dem Ziel einholt. So kurz allerdings, dass eine Regenjacke nicht mehr lohnt.
Ich flüchte vor dem Schauer in einen Supermarkt, brauche eh einige Dinge, und als ich diese verpacken will, pladdert es so richtig los. Da ich aber gerade in interessantem Gespräch mit einer Frau bin - über das Reisen und Vagabundieren und das Zelten (und ich dabei gestehe, dass ich bei Regen lieber ein Zimmer nehme: schimpft mich Schönwettercamperin - damit habt ihr Recht!) - werde ich hier so richtig nass. Es ist warm genug, dass man dies ausgiebig genießen kann.
Ich betrete also nassgeregnet und fröhlich die Pension und lache zusammen mit der Wirtin, die sich entschuldigen will, dass sie nassgeschwitzt vom Kochen vor mir steht. ¨Ja, gucken Sie mal mich an!¨

In Ilsenburg bin ich früh, es ist Zeit, durch den Ort zu wandern. Licht über dunstigen Wäldern vor der Kulisse von Donnergrollen. Die Harz-aufwärts-Wälder verlocken, in Wanderstiefeln hindurchzuziehen. (Statt dessen werde ich morgen meine schwere Schindmähre hindurchkutschieren; möglicherweise schiebend.)
Später dann überrascht mich der Ort, weil um kurz nach 20 Uhr an einem Samstagabend, mitten in der Ferienzeit, die Küche schon geschlossen hat. Beim türkischen Imbiss nebenan gibt´s natürlich noch was. Sogar ein bisschen mehr. (¨DAS ist die kleine Portion?¨ - ¨Naja, ich hab ein bisschen mehr gemacht, ich dachte ...¨) Garnierung mit Freundlichkeit tut jedem Essen gut.

Auf den Wald morgen habe ich Vorfreude. Es soll regnen. Es geht steil bergauf. Ich werde mir nicht vornehmen, wie weit ich kommen möchte. Vielleicht nur nach oben, einfach um dort ein paar Stunden Zeit zu haben. Vielleicht, wenn es sich gut anfühlt, auch weiter, ganz hinüber möglicherweise? Es gibt genug Unterkünfte, darunter drei Zeltplätze - sollten alle anderen Unterkünfte voll sein, hätte ich dann doch noch die Chance, zur Schlechtwettercamperin zu werden.

Samstag, 15. August 2015

Tag 8: Brome - Schöningen


Ob dieser Tag mit mir meine Kraftreserven testen wollte? Oder mich belehren, dass ich mir mit zu rigider Planung selbst im Weg stehe? Eine Kombination von beidem, irgendwie.
Nämlich: weil Gewitter und Regen vorausgesagt waren (und ich meiner WetterApp inzwischen blind vertraue, so Recht wie sie immer hat), hatte ich mir morgens ein Jugendherbergszimmer gebucht. Eines, das eine dritte 90er-Etappe implizierte. Einerseits unbehaglich, weil ich die Hügel und Berge nicht kenne, aber viel Auswahl hatte ich nicht. Andererseits traute ich es mir zu.

Dann aber fahre ich - für dieses Ziel und für die angesagten 35 Grad - viel zu spät los. Schon hier kollidiert es: Planung vs. das Leben laufen lassen. Sich morgens lange Zeit nehmen, mit dem Vermieter plaudern, ruhig aufladen - und schon ist es kurz vor 10.

Die ersten Stunden vergehen mühsam. Mental, weil der Weg gleich hinter Brome durch ein geteiltes Dorf führt. Eines, das bis heute nicht wieder zusammengefunden hat, so scheint es mir unwissender Betrachterin. In der Nähe sind Grenzanlagen aufgebaut, in all ihren Stadien von den 50er Jahren bis zum Schluss. Die allmähliche Zementierung des Getrennten. - Nein, ich stumpfe nicht ab. Jede einzelne Erinnerungsstätte geht unter die Haut. Aber es ist andererseits auch schwierig, verhindert Leichtigkeit, sich dieses Thema als Urlaubsziel gewählt zu haben. Dabei nehme ich noch längst nicht alle Gedenktafeln und Museen etc. mit. Heute morgen komme ich nur schwer aus meiner dunklen Stimmung heraus. Verstärkt wird diese durch die nächsten Ortschaften. Grau und perspektivlos. Man lächelt nicht, man nimmt keinen Augenkontakt auf, man möchte für sich sein. Das irritiert mich zunächst, dann macht es mir Angst. So viel Ungelöstes schwingt mit. Das ist nicht einfach nur die Hoffnungslosigkeit eines verlassenen, aussterbenden Dorfes. Hier sitzt der Schmerz noch sehr viel mehr an der Oberfläche. Nicht nur in Form des Putzes der Häuser, die ich passiere.

Wie ist das, fragten wir uns gestern anderenorts, wie viel Lebensaktivität braucht der Mensch, braucht eine Ortschaft, um sich als lebendig anzufühlen. Lange habe ich heute darüber nachgedacht.
Menschen aller Generationen braucht es. Und da es die Großfamilie unter einem Dach kaum mehr gibt, leben diese sicherlich in verschiedenen Häusern und müssen sich begegnen können. Dazu braucht es Bänke. An einem Spielplatz, unter der Dorflinde, in einem Gasthaus, aber mindestens doch vor einer Bäckerei. Einen Laden braucht es, damit man ohne Auto leben kann und die Kinder einkaufen schicken kann. Und damit es einen Ort der Dorfkommunikation gibt.
Außerhalt des Dorfes, in erreichbarer Nähe, braucht es Erwerbsarbeitsmöglichkeiten. Vielleicht einen Kindergarten, eine Schule, mit anderen Dörfern geteilt.
So wenig. So viel. Viele der Dörfer hier an der Strecke haben nichts von all dem.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie man hier lebt. Vor allem ohne Bänke des Verweilens und Begegnens. Ich kann aber auch nicht in fremde Leben schlüpfen und sie von innen her fühlen. Also liege ich vielleicht nicht richtig, wenn ich über diese entleerten Straßenanblicke bedrückt bin? Hoffentlich nicht, möchte ich rufen.

Und dann ist da das Erstaunliche, was auch andere Radler erfahren haben, ich habe heute mit mehreren gesprochen, auch intensiver: Die Menschen hier grüßen uns alle sehr offen. Oft von sich aus, wenn wir vorbeifahren. Sie helfen, erklären, zeigen sich geöffnet und zugewendet, kommen auf einen zu. Vielleicht stecken doch mehr Lebensmöglichkeiten in diesen scheinbar leergelebten Dörfern?
(Bis auf heute morgen eben.)

Sehr nachdenklich fahre ich durch meine Morgenstunden. Ein besänftigendes Naturschutzgebiet spendet dafür Stille und Schatten, bevor ich über weite Strecken des Tages auf die Straße muss. Heiß ist es dort, sehr heiß. Flimmernder Asphalt lässt mich mehr und mehr ermatten. Alles fühlt sich schlapp an. Zur Mittagszeit bin ich kaum 30 km gefahren und erst in Oebisfelde. 60 km fehlen noch, mir ist ganz schwindelig bei diesem Gedanken. Oder von der Hitze, es wird immer unerträglicher. Dazu ist der Asphalt meist schlecht, der Wind schiebt nicht so konstant wie gestern, und die Ausschilderung des Aller-Radweges ist für mein heute hitzemüdes Hirn viel zu dürftig. Zeit zum Suchen verbrauche ich also auch noch. Immer häufiger halte ich einfach im Schatten an: trinken, kurz der Glut entfliehen. Mein Kopf beginnt zu schmerzen. Frage an mich selbst: Ob und woran ich einen aufziehenden Sonnenstich erkennen würde. Ob das also nicht leichtsinnig ist, hier weiterzufahren, wohlwissend, dass ich der Antihitzetyp bin.

Jedenfalls: Es wird Fünf, bis ich weitere 30 km geschafft habe.Musste mich über erste vorgebirgsartige Hügeleien schrauben, nicht ohne Begeisterung für den Fernblick auf diese sanften Wellen und für die vielen Anzeichen des Südlicheren: immer weniger Backstein, immer dunklere Steine bis hin zu ersten schwarzen Schindeln,
Der Herbergsvater antwortet endlich auf meine Mail, dass er das Zimmer jetzt fest gebucht habe und dass es zu meiner Ankunftszeit kein Essen mehr gibt.
Ich falle also in eine Straßenkneipe ein, voll von Radlern, die alle hier schon übernachten, und gönne mir die Zeit für eine warme Mahlzeit. Und für ein bisschen innehalten. Mich freuen am Dialekt, den ich so liebe. Und an den Lebens-Ortsnamen: Bartensleben, Alleringersleben, Eilsleben, Hötensleben - jedes Ortsschild setzt andere Assoziationen frei.

Die Kinderspaghetti Bolognese werden sich beim Weiterfahren als Zaubernudeln erweisen. Sie setzen Kräfte frei für das, was noch kommt.
Immer noch 30 km zeigt das Navi, ich hatte auf ein bisschen weniger gehofft. Und von nun an geht es bergauf und bergab, permanent. Zudem rückt Gewittergrollen näher. Das war doch erst für nachts angesagt? Mag sein, aber definitiv werde ich gerade nass. In Marienborn sitze ich komplett durchgenässt in einer Bushaltestelle (tut eigentlich gut, wenn ich nicht weitermüsste), es stürmt und tobt, und ich rufe den Herbergsvater an: Späteste Ankunftszeit?
¨Machen wir halb neun¨, reagiert der unwirsch. ¨Wie ¨machen¨? Ich mach so schnell ich kann. Aber ¨machen¨ kann ich das nicht.¨ Er ist sauer, erklärt, dass er um viertel vor zehn den Schlüssel rumdrehen wird, da sei dann eben zu. Worauf ich mir überlege, ob sich im Notfalle auch auf der Bank einer Bushaltestelle schlafen ließe.
Jedenfalls - ich weiß nicht warum - zementiert sich in mir die halb-neun-Drohung, zusätzlich zu den Gewittertürmen in Nähe und Ferne. Das Navi zeigt erschreckende Entfernungen und Höhenmeter, ich schaue lieber nicht genau hin, sondern fliege los.

Jeden steilen Berg im Stehen nehmen, so lange die Kräfte reichen, bei flacheren Anstiegen immer zwei Gänge mehr als Komfort einlegen, Trinken während des Fahrens, Bremsen (die Tiere, die verschwitzte langsam bergauf Fahrende attackieren, lästig wie die Lapplandmücke) mit einer Hand verscheuchen (zwei Hände am Lenker sind überbewertet), durch die Orte durchbrettern, Navi während des Rauschens checken. So könnte ich von diesen fast zwei Stunden erzählen.
Oder auch so: Auf und ab. Das Auf bringt mich auf Anhöhen mit Blick in die weite Ferne. Überall dort zucken Blitze. Wolken und Sonne liefern ein unheimliches Schauspiel. Ab und zu landen Tropfen auf meiner Haut. Zu wenige, um die Jacke anzuziehen, um sich unwohl zu fühlen. Eher hat es was von kindlichem Tanz im Sommerregen.
Ja, ich tanze innerlich. Dies wird auch durch die zeitliche Beengtheit nicht zerstört. Ich staune, was mein Körper leistet. Und ich staune, wie glücklich mich diese Landschaft in ihrem Wetterspiel macht. Sehr unwirkliche Stunden, sehr wohltuende Stunden.

Im Zielort Schöningen (halb neun, Ultimatum geschafft!) verschnaufe ich kurz, realisere, dass ich auf den vergangenen Kilometern nun alles ¨Touristische¨ ausgelassen habe: den großen Tagebau zu sehen, die kleinen Schlösschen zu betrachten, in den Ortschaften innezuhalten ...
Dann gebe ich die JuHe-Adresse ins Navi ein. Schock. 150 Höhenmeter auf 3 Kilometer. Fühlt sich nach Umfallen an. Da das aber keine Alternative ist, schraube ich mich hoch. Ich weiß nicht mehr wie. Durch die Kleingartenanlage schiebe ich. Die Straße ist machbar, ich kann es selbst kaum glauben. Und treffe vor dem Tor ein, als die ersten wirklich dicken fetten hagligen Tropfen fallen. Abladen, Nasswerden, von den Radlern in der Herberge bedauernd angesprochen werden, und vom Herbergsvater keinen Gruß, keine irgendwie freundliche Bemerkung zu bekommen, nur das nötige Prozedere - das ist schon speziell.

Der Rest des Abends: Brötchen aus den Packtaschen verschlingen (am liebsten hätte ich im Zimmer gekocht:)), Bier dazu, sitzen, telefonieren, duschen, schreiben. Vor allem aber sitzen.
Müde, seeehhhr müde. Die heutigen Höhenmeter hätten für die Harzdurchquerung gereicht.
Aber sehr befreit und befreiend fühlt sich der Tag an. Er hat Mein-schönstes-Ferienerlebnis-Potenzial. Um es unflapsig zu sagen: Ein wahrlich guter Tag.

Freitag, 14. August 2015

Tag 7: Arendsee - Brome


Schnell stehe ich auf, hier an diesem unwirtlichen Platz. Ich möchte nur weg und beginne zu packen, bevor der Campingplatz erwacht. Ein bisschen holt mich der Platz mit dem Aufwachen ein, aber pünktlich zu seiner Öffnung um 7.30 stehe ich vor dem Konsum (sprich: Konn-summ, Betonung auf erster Silbe) und hole mir Brötchen und Kaffee. Beobachte beim Frühstück noch eine Weile die Menschen, die Familien hier. Man müsste ihre Leben vor sich ausgebreitet sehen, man weiß so wenig, man sieht immer nur das Fremde, das Andersartige. So wie mit dem Mann gestern ins Gespräch kommen, sich wirklich begegnen - doch dafür ist in diesem Fahrleben oft keine Zeit (wenn man nicht unbegenzt nach hinten welche hat).

Früh also verlasse ich den Platz, zunächst am See und seinem Schilf entlang, frisches Morgengrün tanken, bevor die Wärme kommt.
Ein heißer Tag wird es, und ein unspektakulärer. Und ein guter. Ja, ein meditativer Tag, ohne besondere Wegmarken. Eine über Stunden gleiche Landschaft, zunächst noch so eben wie am Deich, später hügliger, ringsum Felder in variierenden Farben, in der Ferne Bäume, selten mal Schatten, stille Dörfer, dessen Leben sich nicht zeigt und nach dem sich mir so manche Frage stellt ... so geht das über viele Stunden. Ich bin zufrieden.

Viele Gedanken tanzen im Kopf, keine aufreibenden, keine unguten, einfach nur ruhiges Dahinwehen. Ich begegne mir selbst - ausgelöst durch Fahrtdinge. Warum schiebe ich meine Reparaturen und das Kettenschmieren immer auf, und die Pipiplatzwahl übrigens auch - was ist da in mir, was mich immer weiter treibt? Warum empfinde ich die Hügel heute mental als schwierig, während sie mir mit den Kindern zusammen leicht vorkamen? Und warum werden die Anstiege - und der Wind übrigens auch - sofort leichter, wenn ich über sie nachdenke? Unbewusster Unzufriedenheitsdrang, ausschaltbar durch Gedanken?

Im Außen passiert nicht viel. X-mal überfahre ich die Grenze, oft unbemerkt. Ich zähle nicht mit. Sollte ich? Mache ich nach der Tour, zu Hause mit der Karte.
Viele Wegabschnitte führen heute auf Straßen entlang, auch auf belebteren. Die Autos sind im Großen und Ganzen sehr rücksichtsvoll. Angst macht mir das laute Vorbeidonnern trotzdem. Einer hupt mal. Will der mich erziehen? Wozu? So wie auch der Mann, der mich auf den Radtunnel hinweist, während ich eben und glatt auf leerer Straße radle. Ich bin in solchen Momenten leider nicht schlagfertig genug.

Da sind ein paar Orte. Was sich mir einprägen wird, sind vor allem ihre Namen: Schrampe. Schmarsau. Ritze. Salzwedel. Schadewohl. Nettgau. Brome. Und der Fluss Dumme.
In Salzwedel und in Arendsee war ich 1980 zur Klassenfahrt. Natürlich erinnere ich mich an nichts. Nur das: Jenny Marx ist hier geboren. Vermutlich sollten wir das als Wichtigstes mitnehmen. Ob die Stadt damals ein graueres Straßenbild hatte? Sicherlich. Heute ist sie fachwerk- und backsteinhäusig angenehm. Ich finde einen Scheunenhof zum Mittagessen, rede mit Leuten aus Neu-Darchau am Elbdeich und erfahre unter anderem, dass die Fähren seit heute wegen Niedrigwassers nicht mehr fahren. Da haben wir Glück gehabt.

Am Abend bin ich in einer campingplatzlosen Gegend gelandet. Keine Möglichkeit, sein Zelt aufzubauen. Doch, ich frage am Schwimmbad, es gäbe eine Pension, bei der ginge das im Garten. Nur feierten die heute ein großes Fest - ich solle mal schauen.
Der Pensionswirt ließe mich tatsächlich campieren. Nur wäre ringsum Feiertrubel, Tische, tausend Menschen. Und Toilette/Dusche hätte ich heute auch nicht für mich allein, weil all diese Gäste dort sind ... hm ... mir machte das nichts. Aber letztlich fühlt es sich an wie Übers-Knie-brechen, zumal ich zu einem lächerlichen Preis hier ein Zimmer haben könnte. Na gut. --- Ein Zimmer mit Morgensonne, in der ich bei weit geöffnetem Fenster gerade schreibe, das ist fast wie draußensitzen.

Der Abend vergeht mit einem Spaziergang durch den Ort. Wirklich verlassen, hochgeklappte Bürgersteige, eintönige Häuserzeilen, keine Menschen zu sehen und zu ahnen - wieder einmal die Frage, wie man in einem solchen Ort lebt. Fast auch hätte ich kein Gasthaus gefunden. Doch, eines. Sonst hätte ich mich beim Rewe im Spätkauf sättigen müssen ...

Donnerstag, 13. August 2015

Tag 6: Hitzacker - Arendsee


Um heute mal mit dem Schluss zu beginnen: es ist der furchtbarste Zeltplatz meiner Campingkarriere. Jedenfalls der, auf dem ich mich am unwohlsten fühle. Ich sitze hier an einem Imbiss mit lauter Dudelmusik (alte DDR-Kampflieder inklusive - soll das witzig sein?). Die hohen Kiefern schaffen eine düstere Atmosphäre, mein Zelt steht an ungemütlichster Stelle mitten auf einem von allen Seiten einsichtbaren Platz, so dass ich mich dorthin nicht zurückziehen mag. Die hier dauerhaft anwesenden Großfamilien kleben an den Randplätzen, und wo immer ich mich dazwischen stellen wollte, hieß es, da in der Mitte sei doch noch massig Platz. Alle Plätze mit einem Minimum an Intimsphäre sind belegt, so wie Strandliegen mit Handtüchern. Hier also bin ich gelandet.

Und nun sitze ich und versuche wieder zu mir zu finden. Natürlich wusste ich längst, dass ich eher der Stille- und Idylletyp bin, daher brauche ich eine solche Selbsterfahrung nicht, um etwas über mich zu lernen. Ich grübele also über zwei Dinge nach: Wieso konnte ich hier landen? Und: Wieso zieht es mich so herunter, dass mir schier der ganze Tag kaputtgehen will?

Ja, wieso bin ich hier? Es war ein voller Tag. Auch an Kilometern. Nun hätte ich in Schnackenburg gut sagen können, dass es genug sei, kurz dahinter gab es eine ruhige Möglichkeit, sein Zelt aufzuschlagen. Aber ich, was trieb mich? Ich fand die 70 auf dem Tacho noch ein wenig zu wenig. Ich fühlte mich frisch und nach dem rettenden Imbiss am Elbufer auch endlich satt. So überging ich meinen Instinkt - Stadtzeltplatz, direkt an touristisch überlaufenem See - und trieb mich weiter voran. Einmal hier, gab es kein Zurück. Campingplätze sind nicht so dicht gesäht, dass ich jetzt noch eine Wahl gehabt hätte.

Und wieso zieht es mich in so düstere Stimmung? Doch, ich sehe hier Menschen, die mich anlächeln, ich sehe Kinder spielen, ich finde auch hier Berührung durch Lächeln und Freundlichkeit. Und trotzdem fühle ich mich beengt. Die lärmige Welt rückt mir hier sehr auf die Pelle. Und gleichzeitig Blicke, Rücksichtslosigkeit, Abgrenzung.

Nun, ich nehme es als Übung im Bei-mir-bleiben. Versuche, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten und diesen Tag in seiner Ganzheit doch noch als warm zu empfinden.

Fing er doch so wunderbar an, mit einem Morgenblick auf die Kiefern vor meinem Fenster, mit so ruhigen Stunden bis zum Aufbruch.

Und war doch der Weg heute ein guter. Das Wetter SEHR angenehm mit nur 20-25 Grad und bedecktem Himmel, beim einzigen ernsthaften Regen eine Bushaltestelle, die ich ganz für mich allein hatte. Die Elbauen in nebliger, unspektakulärer und darum friedenstiftender Stille. Die Erinnerungen an meine Pfingsttour (bzw. das Nicht-mehr-Erinnern, bis auf den Baum, unter dem ich damals das Hagelschauspiel beobachtet habe). Die drei Elbfähren (die vierte Flussüberquerung war eine Brücke - nur um bei den geographisch bewanderten oder mitdenkenden Menschen keine Fragen aufkommen zu lassen, ich befinde mich ja auf derselben Elbseite wie heute morgen). Die Verlassenheit des Weges - heute morgen bei den Packtaschenansammlungen in der Jugendherberge hatte ich schlimmste Überfüllung befürchtet. Mein Spiel und Gegenspiel mit dem Wind - welches immer vor allem Fragen an mich selbst stellt: Wie gehe ich mit der Gegenkraft um, wie füge ich mich ein, wie finde ich mich als Partner des Widerstands? Die Natur ringsum - wäre ich kein biologischer Analphabet, gäbe es sicher in der Flora, Fauna und Vogelwelt sooo viel zu sehen; dass aber eine außerordentliche Atmosphäre herrscht, entgeht selbst mir nicht. Die kurzen Begegnungen am Wegesrand - Menschen, die ein bisschen von sich erzählen, und ich von mir und meinem Weg. Die Abendstille, das veränderte Licht, welches ich nur bemerke, wenn ich gegen Abend noch fahre ...

Da war so vieles. Von all dem ¨Gesehenen¨ zu erzählen, von der Dorfrepublik Rüterberg, von den Grenzzäunen, der Kaserne, von all diesen Geschichten, fehlt mir jetzt die Wachheit (und nicht zuletzt die Lust zum Zelt zu gehen und das Buch zu holen, in dem ich vieles gelesen habe).

Es war ein guter Tag. Eigentlich. Und das eigentlich streiche ich gleich wieder. Es war ein guter Tag. Ich werde ihn mir von diesem Ort hier nicht kaput machen lassen.

Frage mich nur: Wo werde ich morgen landen? Die Gegend, in der ich sein werde, ist touristisch höchst unerschlossen (zu Recht?), keine Zeltplätze, keine Pensionen. Wer weiß, welche Optionen sich überhaupt bieten. Worauf werde ich mein Augenmerk legen? Wiederum auf die Kilometer, oder auf das idyllische Element (welches es dort eh nicht gibt - Vorsicht: Vorurteil!), oder auf den Zufall? Ich werde sehen ...

Und nun hat der Tag, während ich schreibe, doch noch einen sehr erstaunlichen Abschluss gefunden. Ich wurde angesprochen, vom Vater einer pubertierenden Tochter. Aufhänger: meine funktionierende Netzverbindung, welches Netz ich denn hätte. Dann aber über so manches: ihre Reise, komplikationenbehaftet, meine Reise, sie staunenmachend. So kamen wir über unsere Leben ins Gespräch, die wohl gegensätzlicher nicht sein könnten. Ihres zudem in höchsten Komplikationen verstrickt. Gemeinsam aber: die Suche nach dem Gleichen. Nach Wesentlichkeit, nach Innerlichkeit, nach dem Sich-auf-den-Weg-machen. Welches nur in verschiedenen Lebenskonzepten unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Dass aber in allen Menschen die gleichen Dinge nagen - ob das wohl so ist? (Ich jedenfalls hätte nie gedacht, mit einem tätowierten gepiercten qualmenden Typen in ein solches Gespräch zu kommen. Da stehen sie mir im Weg, meine Vorurteile, meine Urteile ...)
Zum Abschluss dann: sie wären froh, mich angesprochen zu haben. Ich hätte so zufrieden, so lächelnd ausgesehen, als ich da schreibend saß, darum hätten sie sich getraut. --- Ja, das ist jetzt ein wahrlich fast unglaublicher Spiegel für mich. Habe ich in mir Lächeln und Zufriedenheit selbst an solchen Abenden???

Mittwoch, 12. August 2015

Tag 5: Alt Garge - Hitzacker


Der Tag beginnt um zwei Uhr morgens. Genau genommen: um 2.17. Da fällt mein erster Blick auf die Uhr. Mit dem Schlafen ist es in diesem Moment vorbei. Ein Gewitter, stundenlang, direkt über unserem Zelt, so hört es sich an. Unheimlich, so nah. Ich bedenke schnell, wo die großen Bäume stehen und wie viele Häuser mit Blitzableiter in der Nähe sind - das schmälert meine Angst - aber das macht den Peng-Bumms-Knall-Krach nicht kleiner.
Bei jedem lauten Böller wirft sich die Tochter an mich, zwischendurch steckt sie ihre Finger in die Ohren (so dass diese am Morgen schmerzen, die Finger), schläft aber den Schlaf der Seligen weiter. Im Gegensatz zu mir ...

Morgens bin ich müder als müd, es regnet aber ohnehin, darum bleiben wir - bis auf lästige Toilettengänge - lange lange liegen.
Wohin auch mit dem nassen Zelt, wir lassen es ausgewittern und ausregnen, dann ist es nach 10 Uhr. Ein Gemütlich-Tag bahnt sich an, da wir hier eh nicht vor Mittag wegkommen werden. Weil zudem für die Tochter Papa-Abholtag ist, überlegen wir ein wenig hin und her, kommen aber bald zu dem Schluss, dass so spätes Losfahren mit einer Abholverabredung nicht sinnvoll zu vereinbaren ist. Der Tag hat eben nur 24 Stunden, und 11 davon liegen wir jetzt schon im Zelt.

Also - ein kleiner saurer Apfel für das Kind, aber sie schluckt es schnell - wird ihre Tour hier enden. Wir telefonieren den Papa auf den Campingplatz, und dann überlege ich, was ich gern möchte. Am liebsten: nochmals mit allen Essen gehen, den Nachmittag gemeinsam verbringen, sich in Ruhe verabschieden. Mit einer Tagestour kombiniert sich das schlecht, also buche ich mir ein Jugendherbergszimmer in Hitzacker - 20 km entfernt - und beschließe, mit den anderen im Auto mitzufahren.
Nun werde ich meine Grenzwegradtour also um 20 km unterbrechen. Aber der gemeinsame Tag ist das wert, und ich verspreche: Bis zum Ende der Tour werde ich mich so oft verfahren haben, dass ich die fehlenden 20 km locker wieder reingefahren haben werde.

Nun denn: Am frühen Nachmittag sitzen wir im Auto, die Räder auf dem Dach, die Packtaschen in den Kofferraum geworfen, und überführen uns, insbesondere mich, nach Hitzacker. (Dort bloß nicht vergessen, mein Rad wieder vom Dach zu nehmen!)

Hitzacker ist ein Ort, den man in Reiseführern vermutlich lieblich nennt, so stelle ich mir ¨lieblich¨ jedenfalls vor. Wir machen es uns trotzdem schön, zunächst in einem Eiscafé, dann in einer Biergartenkneipe. Wespenumwoben verbringen wir unsere letzten gemeinsamen Stunden, bevor ich von nun an allein unterwegs sein werde, während die Kinder mit dem Papa nach Hause und von dort nach Italien reisen.

Es zieht und schmerzt schon ein wenig in mir, als ich allein mein Zimmer beziehe (übrigens: eine fantastische Herberge hier!), als wir uns verabschieden, als ich die Tochter ein letztes Mal drücke und mir vergegenwärtige, was mir fehlen wird. Darum auch ist es besser, heute nicht auf einem Zeltplatz zu sein: Ich werde das gemeinsame Kruschteln im Zelt vermissen, ihr Heizstrahlerdasein im Schlafsack neben mir, das gemeinsame Kochen und Packen (und vorher: das Suchen, das Suchen!). Und das gemeinsame Fahren, bei dem sie sonnenstrahlengleich, mit schlechte-Laune-Unterbrechungen nie länger als 1,5 Minuten lang, neben mir herfuhr  - so einen Begleiter bräuchte jeder Radwanderer!

Es ist seltsam. Ich habe mir das Alleinfahren selbst gewählt. Habe es in den Pfingstferien und früher schon sehr genossen. Bin mir sicher, dass ich in diesem Alleinsein am tiefsten in einen meditativen Zustand hineinfinde. Besitze genug vom Autismus-Gen, wie Herr Irgendlink es nennt (in dessen Blog www.irgendlink.de un-un-unbedingt hineinzuschauen lohnt: befindet er sich doch auf dem Weg zum Nordkap, ist schon in höchsten Breitengraden angelangt und schildert das in seinem Blog auf mitreißende, mitreisend machende Weise!)
Und dennoch vermisse ich sie. Ihre Strahlelaune. Ihre Geduld mit sich und der Welt. Ihr Chaos (das sie mit beharrlichem Suchen und triumphierendem Finden kompensiert). Ihre Ausdauer. Ihre Fragen. Ihr Nachdenken. Überhaupt: sie.

Die Jugendherberge fängt mich auf. Viele Radfahrerfamilien sind hier. Man unterhält sich über vergangene und kommende Etappen. Und Jugendgruppen. Aus den Zimmern hört man das Werwolf-Spiel. Durchbrochen von ¨Psst, nicht so laut.¨-Rufen. Woanders wird Ball gespielt. Und Brettspiele. Das Zimmer mir gegenüber trägt die Aufschrift ¨Lehrerstübchen¨, ich fühle mich willkommen:) Spät abends reisen französische Jugendliche mit Geigenkästen an.  Stimmt, da stand was mit Musikfreizeiten an der Infowand. Und allüberall sprüht die besondere Gruppe, sogenannte ¨Behinderte¨, ihren zugewandten, öffnenden Charme in das Hausleben.
Hier ist es warm, hier ist es gut, hier ist der richtige Startpunkt fürs Alleinsein.

Dienstag, 11. August 2015

Tag 4: Büchen - Alt Garge


Mit Blick auf den See bloggen, Seestille und Morgenerwachen vor Augen, gar nicht hier wegwollen. Wenn sich dieses Gefühl einstellt, war der Platz richtig gewählt.
Irgendwann wird die Tochter von der Sonnenwärme aus dem Schlafsack getrieben, schon beim Frühstück flüchten wir in den Schatten, Wärme und unsere Flucht davor wird zum Leitmotiv des Tages werden. (Im Unterschied zu den im Süden Stöhnenden ist das aber unser erster heißer Tag.)

Der Weg ist eben, zunächst, führt entlang des Lübeck-Elbe-Kanals. So erwarten wir das. Darauf stellt sich unser Kopf ein. Und hier wird sichtbar, wie sehr eigentlich der Kopf fährt. Mehr fast als die Beine. Kondition ist immer auch eine Einstellung, eine Erwartung, ein Sicheinlassen.
Erste Bewusstwerdung: als der Weg nach Lauenburg hinauf führt, da streikt es in uns. Wir kehren um, bleiben am Ufer, imbissen dort (man hat uns dort extra eine Bude hingestellt:)) und lassen den hochgelegenen Ort links liegen.

Der Imbiss übrigens überschüttet uns mit Pommes, was möglicherweise ein Versehen, eher aber wohl Geldverdienmasche ist. Wir tragen´s mit Fassung, rufen laut in die Runde der imbissenden Menschen, ob jemand Pommes geschenkt möchte, was nicht der Fall ist, und lassen sie uns - sparsam und nichtsahnend wie wir sind - einpacken. Nichtsahnend deswegen: Habt ihr schonmal probiert, wiiieee bääähhh eingepackte, kalte, lätschige Pommes schmecken? Tut es nicht. Lasst sie euch nie einpacken. Wir sind für den Rest unseres Lebens geheilt.

Zweite Bewusstwerdung dieser Flachstreckenerwartung dann die Elbberge. Die heißen nicht nur so, die sind auch welche. Bei mittlerweile 36 Grad eine Durststrecke im Wortsinne. Oben ist uns die Lust auf das Elbbergmuseum und den Aussichtsturm vergangen, wir hecheln uns nur noch zu einer Bank im Schatten. Befinden uns dort im Ort mit dem sprechenden Namen Vier (vier wovon? haben wir nicht herausgefunden; und der Sohn so: wart ihr auch in Fünf?) und in bester Gesellschaft von minütlich auf die Bank plumpsenden Radfahrern, ebenso erledigt wie wir. (Um jeglichen Fantasien vorzubeugen: es handelte sich um eine große Bankgruppe, niemand plumpste da auf irgendjemand anderen).

Wer sich stundenlang hinaufgekämpft hat, darf dann auch hinabrollen - etwa eine Minute lang. In Boizenburg gibt es außer Eis nicht viel, und dieses teilen wir auch noch mit tausend Wespen, Samariter wir. Ein Wunder, dass wir ungestochen davonkommen, und unüberfahren (Flucht vor Wespen versetzt uns zuweilen in hektisches Quer-über-den-Platz-laufen).

Boizenburg liegt an der Elbe (und ist nicht unser Klassentreffensort, wie die Tochter seit Tagen dachte), also geht es ab jetzt brettleben. So wie gewünscht. Der Elbdeich ist einfach der flachste Radweg der Welt. Was wir nicht dazu gewünscht hatten: die Baum- und Buschlosigkeit. Das heißt nicht nur pralle Sonne, so weit das Auge blicket, sondern auch Weitsicht ohne jedes Ende. Schlecht, wenn man mal muss. So wie die Tochter. Sie versucht es - am Wachturm, am Aussichtsturm - doch jedes Mal kommen schaulustige und verweilende Menschen. Sie verzweifelt fast, und so biegen wir ab vom Deich, in einen Seitenweg, bis dort rettende Büsche ihrem Ansinnen Sichtschutz gewähren.

Die Landschaft übrigens, die ist mir noch sehr nahe. Bin ich doch erst zu Pfingsten hindurchgefahren. Nur war es damals halb so warm, höchstens, also fuhr es sich doppelt so leicht. Der Wachturm ist der erste, der uns auf der Strecke begegnet. Alle anderen bisher waren abgerissen. Wieder so ein Schockmoment. Mit welchem Ziel sie damals auf diesem Turm saßen - das kann man wissen und wissen und wissen, das wird einfach niemals normal. --- Heute beobachtet man von hier aus Vögel.

Je näher wir dem Ziel kommen, umso leichter fährt es sich. Die Fähre Bleckede liegt eine Handbreit vor uns (nur gefühlt), und wir beginnen zu fliegen. So lange, bis wir aus der Ferne eine Autoschlange auf ein Schiffchen sich wälzen sehen, was eine schlachtrufgleiche Reaktion bewirkt: ¨Schaffen wir die?¨ - ¨Klar.¨ Und schon sind wir drauf. Sind wir über eine Wasserlücke gesprungen? Wohl kaum. Die Fährfrau schaut trotzdem erschrocken, wo wir plötzlich herkommen.
Fühlt sich gut an, dieses Übers-Wasser-gleiten.

Am anderen Ufer wartet ein Eiscafé. Die Tochter ist bass erstaunt, dass ich ihr zum vierten (?) Male an diesem Tag mehrere Kugeln spendiere. Was aber soll man bei diesem Wetter auch machen?

Ein Anruf beim Campingplatz - seit neulich sind wir skeptisch -, ein Supermarkteinkauf, ein paar Kilometer noch, die wir schwätzend über Fragen der großen Welt verbringen (die Tochter ist so unglaublich wach derzeit, sie reift minütlich vor meinen Augen:)), und dann das Dorf, in dem wir bleiben wollen. Abgeschnitten von jeder Zivilisation, so verlassen, dass es mir schon unheimlich vorkommt, eine Landschaft mit hohen Kiefern und Anhöhen. Schon wieder Anhöhen, und der Zeltplatz natürlich ganz oben. Schwitz.

Zur Belohnung Alleinsamkeit auf der großen Zeltwiese, ein Kiosk mit Bier (Bier!), und wir. Kochen, spielen, reden.
Schlafen, sehr früh.
Ein guter Tag.