Sonntag, 29. April 2012

Wellen

Dass ein solch winziges Erlebnis solche Schleusen öffnet ...
Und dass ein derart schleusenerschütterter Tag noch so besänftigt enden kann ...
Und nun drehen und winden sich in mir: schmerzendes Erwachen, mitgeflossen durch die Schleusen. Und Erstaunen, wie sehr das Ende des Tages mich zu besänftigen vermochte.
Zweierlei Ahnungen. Beide kann ich nicht einordnen.

***

Abendspaziergang. Auf dem altvertrauten, lange nicht beschrittenen Weg.
Es ringen die kalte Luft des Frühlings und die warme des Sommers. Gehauchter Gegensatz. --- Können Hauche (Plural von Hauch?) überhaupt ringen? Oder tanzen sie? Färben die Welt wellenförmig? Das eine das andere bedingend? Anders nicht spürbar als im Sein des Gegenseins?

Mit der Haut meines Gesichts lese ich dieses tanzende Ringen, und im Ausschnitt des Pullis, heute erstmals nicht von einem Tuch bedeckt. Mit der Stelle unterhalb des Halses, welche im Hebräischen - so erzählte mir mal einer - sowohl "Atem" als auch "Seele" genannt werde. (Und weil dieses Bild so viel zu mir spricht, habe ich es nie "überprüft", weiß bis heute nicht, ob das tatsächlich so ist in der hebräischen Sprache. Ich will es auch gar nicht wissen ... in mir schieben sich seither Atem und Seele übereinander.) Mit der Seele also fühle ich die sich umwebenden, umspielenden Hauche. Welch ein Bild ...

Bis ich bei meinen Bäumen bin, den beiden ungleichen. Ich glaube mich verirrt zu haben. Oder mich zu täuschen. Oder auf einem anderen Weg zu gehen. --- Da sind nicht mehr zwei. Da steht nur noch der  starke, vereinsamt vom schwachen. Nur einer, nur einer allein. Ich suche, verstehe nicht, taste mit den Augen ... und sehe. Wie er liegt, der schwache. Gefallen, kraftlos, verdorrt - wann?

Leicht fühlt es sich an, als ich ein Stückchen seines morschen Stamms zwischen die Finger nehme. Als ich mit den Fingern die Fasern entlangfahre. Wellen nachziehe, Spuren ertaste.
Ein paar kleine Stückchen stecke ich ein. Mögen sie bei mir wohnen, diese Spuren des Nichtseins. Mögen sie mich aufwecken.

Der Gefallene zieht mich an. Doch vor dem Schritt hinüber, ganz nah an den ruhenden Stamm heran, mich auf ihn zu setzen, scheue ich. Stehe unschlüssig in der Dunkelheit. Inmitten von Brennnesseln liegt er da. Und ich wage es nicht. Fliehe vor dem Schmerz, der mich im Schritt erwarten würde. Ziehe mich hinter meine Haut wie hinter Watte zurück. Und sehe im Tal Züge fahren. Wer flieht dort? Und vor was?

Mir im Rücken steht der starke. An dessen Stamm lasse ich mich  nieder. Flüstere ihm zu, ob er schon wisse, dass sein schwacher Bruder ... Natürlich weiß er. Möglicherweise schon lange. Wie lange? So lange war ich nicht hier ...
Es tut gut, am Stamm zu sitzen. Zu lauschen, zu schauen. Warm zu werden. Der Tanz der Hauche auf der Seele für den Moment nicht spürbar. Für eine lange Weile. Bis vom Mond zum Geäst eine Spinnwebe hinübergewachsen ist - so lange sitze ich.

Dann erst wieder: Fuß vor Fuß, weiter auf dem Weg. Es geht sich von allein. Der vereinsamte Baum bald hinter einem und vor dem nächsten Hügel verschwunden, mein Mondschatten mir den Weg weisend, mein Schrittknirschen mir das jeweils Nächste aufzeigend. Erinnerungen fluten mich. Auch solche aus der Zukunft. Gedankliche Rückwärtsschritte, während die Meter unter mir davonrollen.

Hinter geschlossenen Schleusentoren sind Tränen gut spürbar. Was tragen sie in sich? Fast fühlt es sich warm an. --- Und allezeit das Tanzen der Hauche auf und in, mitten in meiner Seele. Nicht wissend, ob noch Frühling, ob schon Sommer ist. In der Ferne ein erntender Mähdrescher, in meiner Tasche morschtote Holzstückchen mit ihrer Saat. Woraus ihr Same bestehen mag?

***

Es fließt so schnell. Der heutige Fastsommertag schreckt mich auf. Die Bilder vom vergangenen Dienstag - da war Frühling, eindeutig Frühling - sind bald schon gestrige. Heute brauche ich sie, meine Augen zurückzuholen in die Zeit des ruhigen Aufbrechens. Für heute ist mir dies Anker ...































































Montag, 16. April 2012

Ferienende

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Und wie ich mich fühle? Ferienreif. Bedrückt. Bedrängt.
Dringliches ist liegengeblieben, Wichtiges kam nicht zum Zuge.

Oder doch? Ich hole die Fotos von der Kamera, mir selbst vor Augen zu führen. Doch, da gibt es Ferienbilder. Ich muss sie im Außen anschauen, um sie innen wieder zu fühlen ...





















































Und doch ... Als der Sohn gestern Abend weinend sagte, er wolle noch länger Ferien haben, da weinte ich fast mit. Leider haben wir das Kästchen im Kalender nicht gefunden, in dem man mit einem Häkchen wünschen kann: "Ja, ich hätte gern noch eine Ferienwoche mehr."


Donnerstag, 12. April 2012

nicht heil

Osterferien stellt man sich anders vor. Von wünschen ganz zu schweigen. Jedenfalls nicht mit Pendelverkehr zwischen Krankenhaus und Zuhause. Nicht mit Notarzt und Not-OP ...

Was das mit mir macht? Ich bin ganz ruhig geworden. Denke über "vorstellen" und "wünschen" nach. Dass beides immer weniger Platz in meinem Leben findet. Dass ich wieder mal eine Chance bekomme, das Annehmen zu üben - das kleine Annehmen, in Stellvertretung - oder Vorbereitung? - des großen. Die bis gestern noch wichtigen Dinge rücken sich zurecht, wohin sie gehören: auf die Nebenbühne. Ins Zentrum gerückt ist die --- hm --- Stille? --- Mir fehlen die Worte, das zu benennen, was ich in den letzten Tagen erfahren durfte.
(Und dass ich erstmals im Leben meine Abiturkorrekturen unpingelig, unpedantisch, unperfektionistisch, unakribisch und pragmatisch zügig durchziehe, immer häppchenweise zwischen zwei Klinikfahrten - das macht mich stolz und froh zugleich: Könnte ich mir diese Arbeitsweise bewahren, für "unspektakuläre" Zeiten, was hätte ich Wesentliches gelernt für meine Arbeit :))

Die Kinder?
Der Sohn ist besorgt und sehnsüchtig. Schenkt seine Liebe in der Hülle einer täglichen Mitbring-Gabe voller Originalität und Selbst. Heute - er wächst über sich hinaus - hat er erstmals in seinem Leben ganz ohne meine Hilfe gebacken. Kekse, in Bilderform zurechtgeschnitten, verziert, beschriftet. Der größte bekam nur die Aufschrift "Papa". Ein Ausrufezeichen war unsichtbar dahinter gesetzt.
Verlassen wir die Klinik, ist er traurig, kaum zu trösten. Nur die Loriot-Kassette vermag ihm ein Lächeln zu entlocken. Und sofort grübelt er los, was er morgen schenken könnte ...
Die Tochter verpackt ihre Ängste in tausend Fragen. Saugt alle Eindrücke der Klinik auf und teilt mir mit, was sie beobachtet. Dort: ein Mann liegt in einem Bett, wird von einem Arzt geschoben. Und dort: lauter Ärzte kommen die Treppe runter. Und dort: ein Kind, hat sich den Arm gebrochen. Und dort: der Mann hat ganz viel Rot an der Wange, hat sich verletzt. Dort: die Frau hat ein verbundenes Auge.
Sie will alles wissen: Warum trägt die Frau ein Tuch vor dem Mund? Wie wird eine Narkose gemacht? Warum sitzt der Mann im Rollstuhl? Wozu sind die Knöpfe hier am Bett? Was ist in der Flasche? Warum haben die in der OP grüne Sachen an? Wenn ich mal ins Krankenhaus muss, gebt Ihr mich dann in die Kinderklinik oder hierher? Warum sind die Kinder in der Kinderklinik? Und wenn der Papa sterben muss?
Ich weiß keine Antworten. Außer auf die marginalen Fragen, wozu die Knöpfe am Bett sind und was in der Flasche ist. Nicht mal das Wie der Narkose, nicht mal die Grünkleidung kann ich erklären. Geschweige denn ihre wirklichen Fragen. Ich öffne meine Augen und realisiere mit ihr, in welcher heilen, unangetasteten Welt wir bisher gelebt haben. Sie kennt das Unheile nicht, sie hat Versehrtheit noch nicht erlebt. Nun steht sie davor, in einer Mischung aus Neugier, Schrecken, Faszination und Angst. Sie schenkt mir mit ihren Fragen ihre Kinderaugen. Ich kann gar nicht anders, als jede Augenblicksbegegnung auf den Klinikfluren mit einer Frage zu durchleben - nach der Geschichte, dem Schicksal, der Kraftquelle meines Gegenübers. So viele Gespräche würde ich hier gern führen, so viele Lebenswelten gern betreten ...

Und dann ist da noch etwas. Das wichtigste Geschenk dieser Tage vielleicht. Da ist Dankbarkeit in mir. Große Dankbarkeit.
Nicht nur - aber auch - weil sich hier unsere Geschichte relativiert, sehr relativiert. Die Schicksale, denen man auf den Fluren begegnet ... wie unwichtig, wie leicht ist dagegen das Unsere. Natürlich lässt sich Schmerz nicht gegeneinander aufwiegen, nicht mit einer objektiven Vergleichslatte messen, und doch: Ich danke dafür, dass das Unsere so leicht ist.
Und noch für etwas bin ich dankbar: Wir sind in einer Uni-Klinik, einer sehr guten, mit speziellem Ruf. Der Operateur gilt als besonderer Spezialist auf diesem Gebiet. Das haben wir erst hier erfahren - denn wir sind zufällig hier gelandet, da wir vor den Toren der Kleinstadt dieser Klinik wohnen und es deswegen der nächste, für uns zuständige Notfalldienst war. Deswegen dürfen wir in diesen erfahrenen, kompetenten Händen sein. Mehr kann man nicht wünschen in einer solchen Situation.
Und ein drittes: Heute, als wir zu ihm gingen, nach der OP, in den Nochschlummer der Narkose hineintrafen, da war uns allen ein wenig mulmig. Mir ja auch. Dabei hatte ich die Kinder im Auto versucht vorzubereiten: dass der Papa "anders" sein würde als sonst. Aber das liege an dem Schlafmittel. Und so. Ich wollte die Kinder schützen, und fühlte mich selbst hilflos und verloren dabei. Und dann kam dieses kleine Mädchen auf uns zu. Rothaarig, mit weit geöffneten Augen, mit so vertrautem Blick - da wusste ich, dass alles gut würde ... (Ob ich das Mädchen kannte? Nein. Oder doch - aus einem vorigen Leben vermutlich. Es gibt solches Wiedererkennen. Das heute kam zur rechten Zeit ...)



PS.
Nein, beunruhigt Euch nicht. Nichts Lebensbedrohliches, nichts wirklich Lebenswesensveränderndes. Aber das ist nur meine Sicht. Ich stecke nicht drin, stehe nur daneben.
Einschneidend ist es allemal, da es Beeinträchtigungen hinterlassen wird. Wie groß die sein werden? Wir alle müssen Geduld haben, dies zu erfahren.
Für die nächsten Wochen zunächst: Den Berufs-Familien-Alltag organisatorisch zu bewältigen, wird Herausforderung genug sein. Erstaunlicherweise fühle ich im Angesicht dieser Herausforderung etwas in mir wachsen. Ein Licht, eine Gewissheit, einen Kraftquell.
Das Leben macht mich mal wieder sehr demütig ...