Freitag, 23. Oktober 2009

Zeitenläufe

Jetzt in zwölf Stunden werden wir schon da sein, in einem kleinen Ort zwischen See und Berg, irgendwo in Norditalien.

Fremd wie der Ort ist mir die Reise, im Moment. Seltsam. Und auch wieder nicht. Denn die Erinnerung schweift schon den ganzen Tag zurück zu unserer letzten Italienreise, vor fast einem halben Jahr, in einem fernen Leben. Es sind Dinge geschehen seither ...

Ich werde nach Brücken suchen, wenn wir auf dem Weg sind, das Gespräch zwischen See und Berg, zwischen Himmel und Erde, zwischen Wind und Wasser.

Eine Brücke zu unserer letzten Reise ist dieses Foto.



In jenen Tagen dort entstand es, in jenen Tagen als ich den Mut zu diesem Blog fasste. Nun schaut es mir und uns schon 101 Posts lang zu bei unseren Gesprächen hier.

Es gibt weitere Bilder, äußere Bilder, Fotos der damaligen Reise; eigentlich will ich sie seither hier zeigen. Es kam noch nicht dazu, in Ruhe auszuwählen und die Geschichte jener Reise zu schreiben. Vielleicht ist es dafür zu spät, scheinen doch auch meine inneren Bilder des Frühjahrs mir zu entschwinden.

Ob ich neue innere Bilder mitbringen werde, jetzt?

Geschockt

Das Berufsleben mit einer Praktikantin an der Seite eröffnet ungeahnte neue Sichten. Schrieb ja heute früh schon davon. Heute Vormittag wieder solch ein Erlebnis, allerdings negativer Natur.

Wir sitzen in der wöchentlichen Besprechung, reden über gestrige Unterrichtssituationen, und sie fragt mich, wie man an dieser Stelle mit dem Fehler hätte umgehen sollen (gemeint war ihr eigener Fehler).
Klarstellen, sage ich, eingestehen, korrigieren.
Na, sagt sie, darüber gibt es ja keine einheitliche Meinung.
Wie, frage ich, schon leicht hellhörig.
Es gäbe Dozenten, die meinten, niemals dürfe man als Lehrer einen Fehler zugeben, das würde die eigene Autorität untergraben.
WIE BITTE???

Jetzt hoffe ich doch sehr, dass entweder ich mich verhört habe in diesem Moment, oder dass sie in ihrer Vorlesung etwas falsch verstanden hat, oder dass es sich bei diesen Dozenten wenigstens nicht um Pädagogikdozenten handelt. Ich befürchte jedoch ...

Mir wird ganz schwummrig vor Augen, und ich reagiere - vermutlich sehr emotional - mit einer Suada:
Dass wir natürlich unsere Fehler - fachliche und andere - immer und auf jeden Fall eingestehen müssten, dass wir uns bei den Kindern gegebenenfalls zu entschuldigen hätten, dass anders ein Kontakt auf Augenhöhe gar nicht möglich sei, dass dies doch eine Selbstverständlichkeit des respektvollen Miteinanders sei und Schüler vermutlich genau das meinten, wenn sie einige Lehrer als respektlos bezeichneten und dass es vermutlich solche Kollegen tatsächlich gäbe, wenn es schon so an der Uni gelehrt würde und dass ich mit vor Entsetzen offenem Mund hier sitzen würde das zu hören und es für mich der wichtigste Grundsatz sei, offen, ehrlich, voller Respekt und auf Augenhöhe auf die Kinder zuzugehen, und dass ich natürlich zu meinen Fehlern stehen müsse, wenn ich mich nicht über sie erheben wolle, wenn ich ihr Vertrauen auch nur ansatzweise gewinnen möchte und und und ....

Ich konnte gar nicht wieder aufhören, so wie es hier jetzt geschrieben steht. Weil ich so entsetzt war. Ich glaube es immer noch nicht. Und doch gibt es solche Kollegen, vermutlich, oder: ganz sicher gibt es sie. Man, ist das bitter. Arme Schüler.

Neue Schüler?

Da stehen sie an der Tafel, meine Schüler. Und während ich sie anschaue, ihre Augen, Worte, Hände, Körper sprechen sehe, denke ich mir so: Sind die eigentlich neu in der Klasse? (Nein, sind sie natürlich nicht.)
Habe ich sie schon jemals richtig gesehen?
Habe ich sie überhaupt jemals wahrgenommen?

Na wie auch, ich unterrichte sie ja erst seit 6 Wochen, einmal pro Woche. Ich habe 100 neue Siebtklässler kennenzulernen. Jede Woche habe ich die Namen aufs Neue vergessen. Bei 33 Kindern in der Klasse fällt das einzelne durch meine Wahrnehmung hindurch.

Zwangsläufig? Häufig jedenfalls. Anderen Kollegen geht es nicht anders. Wie sonst sollte ich den Satz einer Mutter auf dem Elternsprechtag deuten: „Danke – Sie sind die erste, die mein Kind so wahrnimmt.“ Ja, es gibt Kinder, die hat man bis zum Ende des Schuljahres nicht gesehen.

Heute aber darf ich meinen Schülern intensiv zuschauen. Ich sitze hinten im Raum, und ich kann sie plötzlich von einer ganz anderen Seite sehen, nicht nur im räumlichen Sinne. Es eröffnet mir komplett neue Blickwinkel, dass mein eigener Unterricht von der Praktikantin gehalten wird. Erstmals habe ich Zeit die Kinder zu beobachten, mich in jedes einzelne Kind zu vertiefen. Manche nehme ich heute zum ersten Mal wahr …

Wie spannend es ist, diesen Gesichtern zuzuschauen.
Sie denken nach, sie träumen, sie wirken traurig, sie lächeln.

Wie faszinierend es ist, einen Blick in die Bewegungen dieser jungen Seelen werfen zu dürfen.
Sie lassen ihre Blicke aus dem Fenster schweifen, sie hören konzentriert zu, sie schreiben kleine Briefchen (und zwischendurch auch von der Tafel ab), sie reden, weil es drängt, mit dem Nachbarn, sie sind aufgewühlt von Gedanken und Ahnungen, sie versinken erschöpft in ihrer Innenwelt.

Wie bewundernswert es ist, ihren Spagat zu beobachten.
Sie konzentrieren sich auf den Unterricht, trotz der Unruhe ringsum, und sie durchschreiten wie in einem Parallel-Universum ihre eigene Lebenswelt. Sie vereinbaren beides, werden den Sehnsüchten der eigenen Seele und den Anforderungen der Lehrerin gerecht, sie leisten eigentlich Unglaubliches. (Es ist so ermutigend, ihnen zuzuschauen. Es macht mir Hoffnung, meinen eigenen Spagat zu ertragen, zu leben, zu verwandeln. Schaut nur diese Kinder an …)

Ich bin heute reich beschenkt. Weil ich nicht vorn stehen muss, wo mir alles entgeht, darf ich wahrnehmen, was in diesen 33 jungen Menschen während einer langen Physik-Doppelstunde geschieht.
Welcher Reichtum in diesen jungen Seelen! Wie viele Träume, wie viele Blicke, wie viele wunderbarste Innenwelten!
Ich bin beglückt.

Heute bewegt mich dabei nicht die Frage, ob und wie sich dies mit meinem Unterricht verbinden lässt. Es kann, es wird sich verbinden lassen – jetzt erst recht, wo ich ihnen zuschauen durfte. Ich werde sie anders sehen, fortan.

Heute bewegt mich dabei die Frage, ob ich hiermit nicht wieder in oberflächlicher Betrachtung erstarrt bin. Wie viel – oder: wie wenig – weiß ich eigentlich von der Welt hinter diesen Stirnen? Welche Träume, welche Abgründe, welche Hoffnungen, welche Verzweiflungen der Kinder bleiben mir verborgen? Selbst heute, wo ich sie mit jeder Pore aufnehme und annehme?
(Ich denke vor allem an ein Kind dabei. Dieses sitzt heute nicht hier.)

Ach, vielleicht werden wir nie alles voneinander wissen. Vielleicht wird vieles im Verborgenen bleiben. Und doch: Wie wichtig ist es, aus anderer Perspektive zu schauen. Auf die Schüler, und auf so manches im Leben. Welch Geschenke werden uns zuteil, welch neue Sichten können sich eröffnen …

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Hochrechnung

Der sogenannte Arbeitsplan ist im Arbeitsalltag eines Lehrers eine wichtige Sache. Man verteilt den Gesamtlehrstoff gleichmäßig und sinnvoll auf die Gesamtunterrichtszeit des Schuljahres, unter Berücksichtigung von Feiertagen, Klassenarbeiten und geplanten Schullandheimaufenthalten des gesamten Jahres. Das Ganze wird in eine tabellarische Übersicht gebracht und dann gut sichtbar vorn im Leitz-Ordner deponiert (oder dort, wo man eben seine gesammelten Unterrichtsvorbereitungen abheftet).

Jetzt kann man also richtig losunterrichten. Die Vorteile liegen auf der Hand:
Man bemerkt sofort, wenn man mal eine Woche im Stoff zurückliegt (wegen Krankheit etwa, soll vorkommen) – und fühlt sich dann gleich doppelt schlecht, weil man das in Mathe und Physik niiieee wieder aufholen kann, sagt die Erfahrung.
Man bemerkt sofort, wenn man mal eine Woche dem Plan voraus ist. (Kommt praktisch nie vor, daher kann ich hier nicht berichten, wie man sich dabei fühlt.)
Man bemerkt sofort, wenn man gut und richtig in der Zeit liegt – und fühlt sich ganz unsäglich stolz, erstens weil man offenbar einen guten Plan geplant hat, und zweitens weil man sein Unterrichtstempo offenbar diszipliniert einhält.

So weit, so gut.
Als ich meine Lehrerkarriere begann, erstellte ich diese Arbeitspläne – so wie man es uns in der Lehrerausbildung nahelegte – stets schon zu Beginn der Sommerferien, damit alles auch wirklich gut durchdacht war und dennoch die Chance bestand, es noch 257mal umzukonzipieren.
Aus der Obhut des Lehrerseminars entlassen und ein wenig routinierter geworden, stellte ich fest, dass sich der Zeitpunkt meiner Arbeitsplanerstellung immer mehr in Richtung Ende der Sommerferien verschob.
Irgendwann wurden meine Arbeitspläne gar erst in der ersten Schulwoche fertig.
Doch damit nicht genug: Heute – ja heute: es läuft Woche sechs nach Schuljahresbeginn!!! – muss ich kleinlaut berichten, dass ich meine Arbeitspläne noch immer nicht erstellt habe. Nicht im Geringsten. Stellt sich die Frage, wie ich die vergangenen fünf Wochen überhaupt gescheit unterrichten konnte … Meine Güte!

Mein Kopf macht sich sofort an eine Hochrechnung:
Wenn das in diesem Tempo weitergeht, werde ich – bei einer zu erwartenden Lebensarbeitszeit bis ca. 70 und bei einer nicht signifikant veränderten Schuljahresdauer – die Arbeitspläne gegen Ende meines Berufslebens wieder zum Schuljahresbeginn fertiggestellt haben. Des jeweils nächsten Schuljahres nämlich ;-)))

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Formsache?

Nummer 1:
"Ähm, also, ich war letztes Jahr für ´n halbes Jahr in Kalifornien, und das war total toll, also, man lernt nochmal ´n ganz anderes Land kennen, ´n voll anderes Leben und so, coole Leute, mal raus aus allem, mal keine Schule, also so die Schule hier. Is auch cool, dass man ganz andere Fächer da hat ... Also eben ganz andres Land, nette Typen, voll interessante Erfahrung, ähm, also ich kann wirklich nur jedem empfehlen, ähm, also macht des auch mal, is wirklich toll, also, lohnt sich, so´n Jahr im Ausland, so mal was total anderes ..."

Nummer 2:
siehe Nummer 1 (mit "Kanada" statt "Kalifornien")

Nummer 3:
siehe Nummer 2 (mit "Neuseeland" statt "Kanada")

... usw.

Schüler werben vor anderen Schülern für ein Auslandsjahr. Stehen auf der großen Bühne, lässig das Mikro in der Hand.
Wir Lehrer stehen kopfschüttelnd dabei und wissen nicht, ob wir eher über die inhaltliche oder über die stilistische Armut der Vorträge weinen sollen. (Keiner von uns beneidet in dem Moment die Deutschlehrer ...)

Nein, ich gehöre nicht zu der Fraktion "früher war alles besser" und "die Jugend von heute" und überhaupt. Aber das hier erschreckt mich, vorsichtig ausgedrückt. Denn sie sind 16, 17, 18 und werden in 1, 2, 3 Jahren Abitur machen. In weniger als einem Jahrzehnt werden sie uns als Ärzte behandeln oder als Anwälte vertreten, werden für die Belange kleiner Kinder oder großer Firmen verantwortlich sein, werden uns als Journalisten oder als Kundendienstberater gegenübertreten.

Die Bedeutung eines angemessenen Gebrauchs der deutschen Sprache mag ja gemeinhin leicht überschätzt werden (;-)), aber ein wenig sollten sie in diesem Bereich schon noch zulegen, die jungen Leute, findet ihr nicht?

Dienstag, 20. Oktober 2009

Auf zum Buchstabenfest



Nach einem kompletten Alphabet war die riesige Lust des Sohnes vom Anfang schon etwas geschmälert, und wir verbrauchten den Rest des Teiges "einfach so".



Und nun werden wir sehen, was uns die Kinder zu den 26 Buchstaben darbieten. Der Sohn präsentiert das M und hat sich als Thema - wie könnte es anders sein - Musik ausgesucht. Neugierig, neugierig ...

Diplomatisch



Das ist Willi Brandt. Bzw. das war Willi Brandt, als er Mitte Oktober 89 die Ehrendoktorwürde der Moskauer Lomonossov-Universität verliehen bekam. Das Foto fiel mir in die Hände, als ich nach Bildern zu diesem Post suchte.
Wir wären alle hingegangen, hätte nicht der Saal schon Stunden vorher wegen Überfüllung geschlossen werden müssen. Daher kenne ich die folgende Szene nur aus der Erzählung eines Kommilitonen.

Nach einer langen Rede, die Satz für Satz ins Russische übersetzt worden war, durften Fragen gestellt werden. Natürlich kamen diese primär von den wenigen DDR-Studenten , die im Saal saßen. Eine davon - wie gesagt am 16. oder 17. Oktober:

"Was würden Sie tun, wenn Sie Erich Honecker wären?"
Brandt:
"Es steht mir nicht zu, diese Frage zu beantworten."
Klug und diplomatisch, in dieser Situation.

Und noch etwas:
Brandt war sichtlich gerührt, dass Studenten aus der DDR anwesend waren, man hatte ihm wohl nichts davon gesagt, dass es hier an der Uni "Landsleute" gibt.
"Hätte ich das gewusst, hätten wir uns die Übersetzung sparen können, und uns bliebe jetzt mehr Zeit zum Reden."
Ja, gute Idee, Herr Brandt. Nur was hätten wir solange mit den paarhundert Russen im Saal gemacht? ;-))

Montag, 19. Oktober 2009

Freitagskonferenz

Nun habe ich ein Wochenende lang versucht mich zu beruhigen, habe die Erlebnisse von letzter Woche absinken lassen, habe in mir Hoffnung und Vertrauen auf einen guten Ausgang vorgefunden – und möchte doch hier nochmals vom Freitag erzählen. Möchte herauslassen, was mich und uns so aufwühlte. Beruhigt bin ich noch lange nicht, sind wir nicht, können wir nicht sein, angesichts dessen, was wir auf der Freitagskonferenz erfuhren.

Konferieren“ – zusammentragen, austauschen – ist nicht das passende Wort für das, was wir Lehrer dieser einen Klasse da taten. Wir trugen nichts zusammen, wir tauschten nichts aus, jedenfalls nicht im konferenz-üblichen Sinne. Wir bekamen nur mitgeteilt, von der Klassenlehrerin und vom Krisenteam. Austauschen konnten wir nur unsere Sorgen, unsere Rat- und Hilflosigkeit. Wenn es manchmal auch wohltuend sein kann, sich in einer Gruppe eingebettet zu wissen, die am gleichen Problem trägt, so empfand ich es hier eher als noch beunruhigender. Wünschte mir, dass mich jemand an seine große Hand nähme und mir ein "Alles wird gut" schenkte ...

Mitgeteilt bekamen wir,
dass Gefahr A und Gefahr S im Raum schweben,
dass die Experten der Polizei nach Gesprächen mit dem Mädchen, seinen Eltern und der Klasse zu der Auffassung gekommen seien, dass Gefahr S als nicht unerheblich, Gefahr A dagegen als etwas geringer einzuschätzen sei,
dass das Mädchen weiterhin die Schule besuchen wird, da die Eltern keinerlei Veranlassung sehen irgendetwas zu unternehmen - denn "Kinder sagen so etwas eben einfach mal dahin." (O-Ton Vater, der muss es ja wissen)

Nicht mitgeteilt bekamen wir,
was man sich unter „etwas geringer als nicht unerheblich“ vorzustellen hat,
wie die Experten nach den Gesprächen eines lächerlich kurzen Vormittags zu solch gravierenden Einschätzungen kommen können – ein sehr zweifelhaftes Expertentum,
ob wir Gefahr S verstärken, wenn wir die Schülerin vom weiteren Schulbesuch ausschließen, um die anderen Schüler nicht Gefahr A auszusetzen,
wie wir handeln sollten, wenn sie plötzlich mitten im Unterricht ...

Und dann brach es aus einem Kollegen heraus, mitten in die angespannte, nervöse Atmosphäre hinein, warum wir uns denn eigentlich diesen Schuh anziehen müssten. Dass wir doch das Kind gar nicht schützen könnten, vor sich selbst, und die anderen Schüler schon gar nicht. Und dass wir, wenn wir sie nun ohne Unterlass beaufsichtigen (was wir tun müssen – alles andere wäre grob fahrlässig), die Verzweiflung in ihrer Seele nur noch vergrößern werden. Warum denn bitte nicht die Eltern ihre Verantwortung wahrnehmen und dem Kind professionelle Hilfe zuteil werden lassen.
Weil wir sie nicht zwingen können. (Immerhin, die Polizei hat das Jugendamt eingeschaltet, damit dieses eventuell Zwangsmaßnahmen gegen die Entscheidungshoheit der Eltern ergreift. Nur: das dauert ein paar Tage, und solange ...) Puh!
Wir haben diesen Schuh nunmal an, auch wenn er uns nicht passt. Das Kind kommt zu uns, auch heute wieder. Und wir fühlen uns verantwortlich dafür, dass keine der beiden Gefahren Realität wird. Auch wenn wir diese Verantwortung eigentlich gar nicht tragen können ...
Deswegen ist auch die Polizei heute wieder im Haus (die Präsenz grüner Uniformen im Schulhaus hat nicht gerade beruhigende Wirkung, kann ich euch sagen ...).

Oh, bitte ...
Ich möchte nicht, dass wir das miterleben müssen.
Ich möchte nicht in der Haut der Kinder dieser Klasse stecken – insbesondere nicht des Kindes, was sich hat anhören müssen „und wenn ich Amok laufe, wirst du die erste sein“. Ich möchte auch nicht in der Haut der Mütter dieser Kinder stecken.
Ich möchte nicht der Lehrer sein, der den Raum betritt, wenn sie auf dem Fensterbrett steht, im dritten Stock (wie zweimal geschehen in der letzten Woche) – und ich ertappte mich schon bei dem Gedanken der Erleichterung, weil ich sie im Erdgeschoss unterrichte.
Ich möchte nicht mit meiner Schulleitung tauschen, die sich in noch viel stärkerer Weise verantwortlich fühlen muss für alles, was jetzt geschieht.
Ich bin gerade froh darum, nicht die Klassenlehrerin dieses Mädchens zu sein, die all die aufkommende Panik bei Schülern und Eltern im Zaum halten muss.
Ich hoffe so so, dass nichts geschieht - nicht bei mir im Unterricht, und nicht bei einem Kollegen. So sehr ich mir meine Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten nüchtern versuche im Voraus zu überlegen, so hilflos fühle ich mich allein schon bei dem bloßen Gedanken, was täte ich wenn .... Wir üben das nicht, haben das noch nie durchgespielt, so wie man Feueralarm regelmäßig übt ...

Oh, bitte:
Ich möchte überhaupt nicht, dass etwas geschieht.

Ich möchte, dass wir alle aus diesem Alptraum aufwachen dürfen. Dass die Eltern ihr Kind endlich ernstnehmen und vor seinem Problem nicht länger die Augen verschließen.
Mein Gott, sie haben ihr Kind vor vielen Jahren liebend in Empfang genommen auf dieser Welt, sie haben ihm einen wunderschönen Namen mitgegeben auf seinen Weg, und nun ... was mag in all den Jahren mit dieser jungen Seele geschehen sein ...


Ach ja: Vor kurzem hatte ich Sorge, dass mich mein hektischer Schulalltag auffrisst, dass ich aufgesogen werde von seinem geschäftigen Treiben, welches oft oberflächlich ist, oft mit dem wahren Leben nicht allzuviel zu tun hat, wir mir schien.
Oh mein Gott: So viel wahres Leben in der Schule habe ich nun auch wieder nicht gewollt – so hatte ich mir das nicht vorgestellt!

Sonntag, 18. Oktober 2009

Erinnerungsfluss

Vy uze uslyschali,... schto Chonekker uschol?
So begrüßte mich meine Lehrerin, als ich – heute vor zwanzig Jahren – wie immer mittwochs in den Russischunterricht kam, den alle ausländischen Studenten an der Moskauer Universität besuchen mussten.
- „Haben Sie schon gehört, dass Honecker nicht mehr ist?“
- „Wie:´nicht mehr ist´?“
- „Na, nicht mehr Staatsschef.“
- „Ja, ist er gestorben?“
- „Nein, nein, da ist jetzt ein neuer.“
- „Nicht gestorben?“
- „Nein, zurückgetreten, abgesetzt.“
- „Und wer ...?“
- „Weiß nicht wie er heißt, mit so ´ner Nase.“
(entsprechende Handbewegung)

So etwa erinnere ich mich an das erregte Gespräch mit Jelena Michajlowna, die ihre Emotionen (und ihren Unterricht) sonst nur und ausschließlich Puschkin widmete. An jenem Mittwoch aber gab es nur dieses eine Thema. Was sie mir da erzählt hatte, war einfach nur unglaublich. In der DDR nämlich wurden, wie in der Sowjetunion, die Staatschefs nicht zu Lebzeiten abgesetzt oder gar abgewählt, sie starben halt irgendwann. Erst dann kam ein neuer. Jetzt dieser Rücktritt, dieser Sturz – das war eine Sensation. Auch wenn der neue Name Krenz nichts Neues erwarten ließ, war doch die Tatsache an sich, diese Palastrevolution, verheißungsvoll --- jedenfalls für uns da draußen in Moskau.

Möglicherweise habt ihr, die ihr diese Zeit mitten im Geschehen, zu Hause verbracht habt, den Tag anders erlebt und bewertet. Vielleicht waren euch schon die Demonstrationen Anfang Oktober deutliches Signal für einen Umbruch, weil ihr deren Tragweite aus der Nähe besser erspüren konntet. Vielleicht wart ihr mehr als wir sofort wieder desillusioniert, als der neue Name Krenz auf der Anzeigetafel erschien. --- Für uns jedenfalls, die wir seit Anfang August vom täglichen Miterleben der Ereignisse, von Nachrichtenübermittlung in Echtzeit und vor allem von den „Westmedien“ so gut wie abgeschnitten waren, war das der Tag des großen Hoffnung-Schöpfens.

Nach dem Unterricht eilte ich zurück in die Uni, ins Wohnheim, um die anderen zu treffen. Überall ging es nur „hast du schon gehört?“ und „weißt du was genaueres?“. Abends saßen wir lange zusammen, redeten und spekulierten. Träumten von einem Dritten Weg, wie die Utopie eines dritten Gesellschaftskonzepts damals genannt wurde (erinnere ich mich da richtig?), einem neuen Land, das wir ganz neu gestalteten. (Träumer, wir ... sage ich heute)

An jenem Abend wurden uns all die kleinen Zeichen bewusst, die man schon vorher hätte bemerken können. Das Neue Deutschland hatten wir täglich gelesen und als erfahrene DDR-Zeitungsleser durchaus zu deuten gewusst. Honeckers Ochs-und-Esel-Spruch und große ganzseitige Schlagzeilen „Menschenhandel des BRD-Imperialismus“, garniert mit Mentholzigaretten-Geschichtchen konnten nichts anderes bedeuteten, als dass das System mit dem Rücken zur Wand stand. Als Anfang Oktober ein Politbüro-Mitglied (ich glaube, es war Harry Tisch) in Moskau bei den traditionellen „Tagen der DDR-Kultur in der Sowjetunion“ weilte und eine Rede hielt, konnten wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass sich da jemand ein Hintertürchen offenhalten wollte durch ganz neuartige Formulierungen. Und dass diese Rede nicht wörtlich in der Presse abgedruckt wurde, war ein weiteres Zeichen ungewöhnlicher Vorgänge.

Allein: Wir fühlten uns vom Informationsfluss abgeschnitten, waren wir doch auf Spekulationen und Deutungen, die gänzlich falsch sein konnten, angewiesen. Das russische (ähm: sowjetische) Radio und Fernsehen gab nicht viel her außer den nackten Fakten. Das WWW war gerade erst dabei erfunden zu werden und natürlich weit davon entfernt, schon nutzbar zu sein. Emails gab es damals wohl schon, aber das spielte für uns keine Rolle, mangels Computern an der Uni. Telefonate in die Heimat mussten einen Tag vorher angemeldet und bezahlt werden – und wenn dann niemand zu Hause war, hatte man Pech und das teure Geld war hinüber. Briefe gingen drei und mehr Wochen.



Blieben Zeitungen. Am großen Uni-Zeitungskiosk wurden nämlich neben ca. 500 Stück Neues Deutschland auch die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine in jeweils fünf Exemplaren verkauft. Wir, die wir ohnehin fast alle im Hauptgebäude der Uni mit seinem 15000-Betten-Wohnheim untergebracht waren (nein, keine Null zuviel!), wechselten uns ab, um frühmorgens mindestens eine der kostbaren Zeitungen zu ergattern. Diese reichten wir dann im Laufe des Tages herum: schnell lesen und weitergeben. Wie wichtig war uns diese einzige zeitnahe Informationsquelle!
Ich erinnere mich an eine Szene, als uns eines Morgens direkt vor der Nase die letzte Süddeutsche weggeschnappt wurde – von einem Russen! Wir sprachen ihn an, bettelnd, fordernd fast, schließlich ging es um unser Land, nicht um seins. Er sagte, er sei Deutschlehrer und würde die Zeitung seit Jahren hier kaufen, weil er sie für den Unterricht bräuchte und informiert sein wolle, aber nun gut, er könne uns ja verstehen und überließ uns das kostbare Stück. (Zur Erläuterung: Kopierer gab es damals nicht.)

Ich weiß nicht mehr, ob schon in jenen Tagen oder später, als sich mit dem Mauerfall die Ereignisse noch mehr überschlugen, irgendwann war uns die Zeitung vom Vortag zu veraltet. Die dort berichteten Ereignisse waren ja mindestens 48 Stunden her, und in dieser Zeitspanne drehte sich das Geschehen in der DDR an manchen Tagen ebenfalls zweimal um die eigene Achse. So erhielten wir von unserer Botschaft die Möglichkeit, täglich, sogar alle 6 Stunden, das aktuellste Fax der DDR-Nachrichtenagentur ADN in einer Kopie abzuholen. Wir nutzten dies, hängten es immer sofort an der Wandzeitung aus. Vielleicht gelangten auf diese Weise manche Informationen sogar schneller zu uns als zu den Menschen, die vor den heimatlichen Bildschirmen und Radios saßen?

So war das damals. Unser Land löste sich in einem wahnsinnigen Tempo auf, und damit all unsere Lebensumstände, unser gesamtes Lebensgefüge. Wir alle hatten wohl keinerlei Vorstellung, was am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat sein würde. Weder jene von uns, die die Wende mit Beklemmungen, noch jene, die sie mit Erleichterung durchlebten.
Und wir da draußen, wir erlebten all das nicht weniger intensiv als ihr zu Hause. So abgeschnitten, so fern wir in Moskau waren, so sehr waren wir doch innerlich beteiligt, so nah fühlten wir uns dem Geschehen.

Jetzt, wo ich es aufschreibe, erinnere ich mich wieder intensiv an die spannungsgeladene Zeit. Die Stimmungen, Hoffnungen, Gefühle jener Tage, an denen so Unerwartetes und Unglaubliches geschah, was wir noch wenige Monate zuvor nie nie zu hoffen gewagt hätten, sind mir unglaublich präsent.
Ich denke, dieses „heute vor zwanzig Jahren“ wird noch öfter hier im Blog auftauchen. Denn noch nie habe ich unsere damaligen Erlebnisse, unsere ganz spezielle Sicht von Moskau aus, aufgeschrieben.
Das, was wir damals erlebt haben, möchte ich nicht eines Tages vergessen haben. Nein, wirklich nicht. Hej, wir waren Zeitzeugen!


Und ausgerechnet heute Mittag begibt es sich, dass bei uns im Küchenschrank die Tassen so weit aufgebraucht sind, dass ich in die hinterste Reihe greifen muss. Mir fällt die Tasse in die Hände, die als einzige aus meinem damaligen studentischen Haushalt noch lebt, die alle meine Studentenbuden durchwandert hat. Damals war sie mit in Moskau: Wie viele Liter Kaffee – vom echten, und vom russischen rastvorimy (löslichen) – mögen in sie und aus ihr geflossen sein, und wie viele Liter Tee – vom ersten, zweiten, dritten, oder – wenn die nächtlichen Diskussionen lang und die Teevorräte knapp waren – auch mal vom achten Aufguss.


Samstag, 17. Oktober 2009

Nur das

Wenn ich mit der fiebernden Tochter samt ihrer Rotznase den Nachmittag im großen Bett verbringe, ich korrigierend und lesend, sie vor sich hin dämmernd, immer mal einnickend,
wenn sie dann zu mir gekrochen kommt, sich an mich kuschelt und mir plötzlich überallhin - von oben bis unten - Küsschen gibt, immer noch mit laufender Nase,
---
und wenn dann in mir auch nur für den Bruchteil eines Moments der Gedanke aufblitzt "Oh nein, ich will jetzt nicht auch noch krank werden" , und dazu noch "Dann muss ich mich nachher vorm Losgehen ja nochmal umziehen"
---
dann werde ich im nächsten Augenblick ganz klein vor Beschämung, wie mir sowas kommen kann.

Ganz klein vor Beschämung, und ganz warm vor Glück,
weil mein Kind hier so wunderbar nah bei mir ist,
weil es uns wohl ist miteinander,
weil ich sie mit allen Sinnen spüren,
weil ich mich mit ihr zusammen geborgen fühlen,
weil ich sie halten, anschauen, streicheln darf,
weil wir morgen wieder zusammen lachen und toben werden,
weil es nicht selbstverständlich ist, dass wir hier nah beieinander sind ---
Nur das zählt - Wäsche und Rotznase hin oder hier - nur das!

Ein Hauch Wärme

Seit Tagen wird es bei uns im Haus immer kälter. Wir haben uns noch nicht durchringen können, die Heizung einzuschalten. Tragen mehr und mehr warme Pullover und Wollsocken. Aber langsam wird es wirklich ungemütlich. Ich friere.
Gehe im Schlafzimmer zum Fenster, um etwas im Garten zu schauen, will weiter nach rechts sehen, gehe näher an die Scheibe mit meiner Wange – und da!
Ein Hauch Wärme!
Er streift mich, als ich ganz nah an der Scheibe bin. Nur dort. Sehr spürbar, sehr wohltuend, sehr unerwartet. Von draußen, von der kaum sichtbaren, der nur im Weiß der Wolken zu erahnenden Sonne, durch die Scheibe dringend.
Ich bleibe eine Weile so stehen, erwärme meine Wange, und mein Inneres dazu. Wie ungeahnt, wie verborgen, wie geheimnisvoll mag so mancher Hauch Wärme sein, im Rings-um-uns. Und wie schön, wenn er einen so unerwartet streift ...

Freitag, 16. Oktober 2009

Der heutige Morgen ...

... ist ein guter Morgen. Getragen von Vertrauen.
Als ich erwachte, waren mir meine Träume noch präsent - jetzt sind sie verschwunden, aber ich weiß noch, dass es gute Träume waren.
Als ich erwachte, blieb ich noch ein wenig länger liegen, heute. So dass ich die 6-Uhr-Glocken noch im Bett liegend hörte.
Als ich mich vorhin von den Kindern verabschiedete, tat ich dies eine Spur bewusster als sonst. So wie ich den ganzen Morgen lang eine Spur mehr gelächelt hatte, eine Winzigkeit länger hingeschaut hatte auf all die kleinen Dinge, die einem das Herz erfreuen können.

Hier ist alles normal, gut, still, wir arbeiten ohne Worte (also: ohne Worte darüber), und ich habe, wie jeden Freitag, morgens noch eine Stunde frei.
Die Angst ist weg, das Vertrauen wiedergekehrt.

Warum nur war ich gestern so geschockt, warum hat es mich so gerüttelt? Wohl, weil es unerwartet und geballt kam, weil so viel auf einmal geschehen war. Weil Schülernamen gefallen sind, von denen man das NIE NIE gedacht hätte. Weil wir einfach nichts über die uns Anvertrauten wissen - nichts wissen können? Weil deren Verzweiflung so aus dem Stillen, Unsichtbaren herausbricht.

Mir werden noch ein paar "Ich will"s bewusst. Wichtigere als die, die mir gestern zuerst kamen:
Ich will meinen Blick auf die Schüler nicht von Misstrauen vergiften lassen.
Ich will nicht ständig die Frage spüren: vielleicht der, oder vielleicht die?
Ich will weiterhin das Gute sehen in ihnen, und nur das. Und dabei eine Spur wacher sein, für die kleinen Signale. Selbst eine Spur deutlicher meine Signale aussenden, das Angebot einer helfenden Hand, eines offenen Ohrs etwa.
Ich will mich nicht lähmen lassen bei allem, was ich tue. Nein, das werde ich nicht ...

Donnerstag, 15. Oktober 2009

Angst

Da sitze ich heute Mittag in der Schule und philosophiere in meiner Pause vor mich hin - über das Tun und das Sein, über den Weg zur eigenen Mitte ... während aus dem Lehrerzimmer nebenan erregte Stimmen zu mir dringen, während grüne Uniformen den Flur entlanglaufen, während an die Schulleitungstür das "Bitte nicht stören"-Schild gehängt wird.

Abruptes Ende der Philosophie-Stunde:
Mit einem Donnerschlag bricht das wahre Leben in mein Adagio ein, holt mich zurück auf den Boden der Realität.

Vier Gewaltvorfälle in den letzten zwei Tagen, jeder einzelne hätte Polizeieinsatz nötig gemacht. Boah!
Sachbeschädigung
massives Lehrermobbing
Körperverletzung
Androhung von ... nein, lieber nicht aussprechen (wenn es dazu käme, dann würdet Ihr das aus der Presse erfahren, von der Titelseite ...)
Und die vielen "kleinen" Alltags-Mobbing-Fälle in den Klassen, mit denen wir uns tagtäglich beschäftigen, die sind hier noch gar nicht mit dabei. Die interessieren die Polizei heute nicht.

Ende der Philosophie-Stunde.
Angst.

Unterricht gehalten, dennoch.
Zu Hause eine Email der Schulleitung vorgefunden. Instruktionen für den morgigen Tag:
hinterer Schulhof bleibt gesperrt, vorn werden alle Aufsichten verstärkt,
in den Klassen beruhigend einwirken, Panikmache vermeiden, Deeskalation der aufgeheizten Stimmung,
erhöhte Wachsamkeit,
Krisenteamsitzung,
Klassenkonferenzen.
Und ich, ich werde natürlich mein Auto nicht da auf dem Parkplatz lassen. Wobei ein zerkratztes Auto noch das Geringste wäre ...

Angst.
Erstmals zittern mir die Knie, wie ich mir das zu Hause alles so durch den Kopf gehen lasse, kommen mir Tränen.

Ich bügele den Rest des Nachmittags und versuche dabei auch die Wogen in meinem Innern zu glätten. Den Kindern lege ich eine DVD ein: Der kleine Eisbär - ich versuche, mich ein Stück weit von der heilen Welt anstecken zu lassen. Gehe immer wieder mit den Kindern kuscheln.

Angst.
Sie kriecht in mir hoch. Es ist unheimlich nahe, plötzlich.

Man, ich will nicht mehr täglich mit riesigen Klassen in winzigen Räumen arbeiten müssen.
Ich will nicht täglich mit ansehen müssen, wie die Kinder unter diesen Zuständen leiden.
Ich will Zeit und Raum und Kraft haben (und deswegen weniger Unterrichtspensum), um mich genau darum zu kümmern: wenn einer von denen nicht mehr weiter weiß, wenn ihm nichts mehr einfällt als blanke Gewalt.
Und ich will eine psychologische Ausbildung bekommen. Für morgen. Und überhaupt, für mein Alltagsgeschäft. - Nichts haben wir in der Richtung gelernt, nie.
Und ich will, dass wir mehr Beratungslehrer an der Schule haben. Ich würd mich auch gern dazu ausbilden lassen. Nur wird dies nicht genehmigt - wir haben ja schon einen.
Und ich will einen Sozialarbeiter an der Schule, das wäre wohl das Mindeste. (Ach so, haben wir ja: eine Viertel-Stelle für 800 Schüler. Ich vergaß.)

Ich will, dass jemand zuhört, was die Kinder zu sagen haben, die uns da jetzt mit Worten und mit Messern bedrohen.
Sie würden sagen: "Ich will xxx."
Und für das xxx setze man ... Zuwendung ... jemand, der mir zuhört ... Liebe ... ein warmes Elternhaus ... eine Schule ohne Druck ... dass ich nicht arbeitslos werde nächstes Jahr ... dass meine Klasse mich respektiert ... dass jemand für mich Zeit hat ...
Manch anderes noch. Zuhören!!!
Wenn sie nicht ihre Worte schon verlernt haben, wenn es nicht schon zu spät ist, für manche ...

Übrigens:
Wir sind süddeutscher Raum, ländliches Einzugsgebiet, Gymnasium, bildungsnahe Elternhäuser (wie man so schön sagt) - heile Welt, sollte man meinen.
Nicht Hauptschule, nicht Berlin-Wedding. Ich kann mir gut vorstellen, dass meinen Kollegen dort der Spaß am Lehrer-Beruf manchmal nicht mehr recht kommen mag.

Und noch etwas:
Habe jetzt mehr schlecht als recht Unterricht für morgen vorbereitet. Trotzdem. Oder gerade. Ein Stück Normalität planen - in der tiefen Hoffnung, dass es ein normaler Tag werden möge. Ein ganz normaler. Sieht man mal von dem gesperrten Schulhof ab. Und von meiner Angst, die sich so schnell wohl nicht verflüchtigen wird. Es ist zu nah gekommen, heute.

Adagio

Vom Morgen bis zum Abend scheint das Licht da draußen, ohne selbst zu wissen, daß es Licht ist. Hohe Bäume saugen Stille auf, sie haben nicht den Drang, das wesentliche Wesen ihrer Baumheit zu ergründen. Leere Steppen liegen ausgestreckt und endlos auf dem Rücken und bedenken nicht das Pathos ihrer Leere, Treibsand treibt und fragt nicht nach der Dauer, nach dem Grund oder dem Ziel. All dieses wundervolle Dasein, es ist wundervoll, doch wundert es sich nie. Der Mond geht rot auf, ein zerlaufenes Auge, und versengt die Dunkelheit des Himmels, ob seiner Einsamkeit ganz unerstaunt. Auf einer Mauer, dösend, eine Katze. Dösend, atmend. Und sonst nichts. Der Wind weht, dreht, weht jede Nacht über die Wälder und die Hügel. Dreht sich immerzu. Und weht. Er denkt nicht, appelliert nicht. Du allein …

Du allein“ – das ist der Erzähler bei Amos Oz, der in langen Nächten, das Wesen der Dinge schreibend zu erfahren sucht – mühevoll, vergebens oft.

Und ich,
in deren Kopf ständig Worte umherwandern – an mich selbst, an dieses Blog, an mein Tagebuch, an andere Menschen gerichtet,
in deren Kopf ständig Gedanken kreisen – um Grund, Wesen, Ziel zu ergründen,
ich lese dies wieder und wieder.
Beginne allmählich und staunend zu ahnen, dass dieses Kreisen und Winden und Drehen und Umherwandern in der Wort- und Gedankenwelt, auf der Suche nach der Mitte, niemals ganz ins Innerste hineinführen wird. Dass, solange nicht alles Denken und alle Worte verstummt sind, ich mich immer wieder gerade dadurch hinausbewege aus dem Zentrum.

Ja, das muss auch so sein, ich muss mich bewegen, ich muss wandern, meinen Weg entlang, und zu diesem Weg gehört Sprache, gehören Gedanken.
Und doch sinne ich nach über ein Adagio all meines Tuns, über das stille Sein der Bäume und des Sandes, des Mondes und der Winde.

Mir kommen Worte in die Erinnerung, mir jüngst von einer Reise in die Bergwelt geschickt: „Das wortlose, stillverstehende Arbeiten der Bergbewohner mit und für die Natur“, so etwa sagte sie, das könne uns „Predigt und Quelle zugleich“ sein. Ja.

Und ich?
Wie finde ich in ein Adagio hinein?
Wie bringe ich meine Gedanken, meine Worte in die Langsamkeit?

Weniger sagen-wollen, mehr lauschen.
Weniger lenken-wollen, mehr empfangen.
Weniger ergründen-wollen, mehr vertrauen.
Weniger verstehen-wollen, mehr mich hingeben.
Und:
Weniger tun, mehr sein, irgendwie.

So unklar die Worte hier vielleicht erscheinen, so wenig deutlich sich mir dieser Text schreibt – ist dies kein Zufall? – so sehr ahne ich, dass ich auf Bäume, Steppen, Sandwüsten und das Mondlicht schauen sollte. Und auf die Bewohner der weiten Bergwelt …

Dienstag, 13. Oktober 2009

Und plötzlich sind sie groß ...

… als hätte jemand über Nacht einen Schalter umgelegt.

Die Tochter …
… bleibt beim morgendlichen Fiebermessen ganz ruhig liegen, ich schaue verblüfft, sie grinst mich wie gedankenlesend an und erklärt, damit ich es auch richtig realisiere: „Net weint mehr.“
… spricht auf der Fahrt zum Kinderarzt beruhigend-beschwörend zu sich selbst: „Net weh tun, nur Bauch angucken, net weh tun, nur Bauch angucken, net weh tun …
… erwacht nachts in unserem Bett, verlangt fordernd ihr Kissen und ihren Teddy (im Dunkeln auch für mich nicht leicht zu finden), um damit zielstrebig in ihr eigenes Bett zu wandern (die Wanderung fand bisher stets in umgekehrter Richtung statt) – weil es ihr bei uns zu eng, zu warm, zu unruhig ist? Zu viel Eltern, zu wenig Raum für Eigenes?

Der Sohn …
… philosophiert seit Tagen über Mädchen: „die ist auch nett, aber nicht so nett wie …“, „mit Zöpfen sieht sie besser aus als mit offenen Haaren“, „am liebsten würde ich später die … heiraten
… holt das letzte Toilettenpapier aus dem Schrank, stellt fest, dass neues gekauft werden muss und geht durchs ganze Haus, alle Vorräte nachzuschauen und eine Einkaufsliste zu erstellen („bravo – darfst Du öfter machen“, denke ich)
… steht am Familienplaner und liest mir vor „Elternabend“: nicht dass ich das vergessen hätte, aber seit wann kann er meine Krakel-Handschrift lesen??? (fängt doch gerade selbst erst mit Schreibschrift an in der Schule)

Kinder, Kinder – und ich bekomme manchmal gar nicht mit, wie ihr wachst, ihr kleinen Großen!

Apropos Elternabend: heute zweite Runde, genau wie letzte Woche. Wenn ich doch nur auch ein bisschen über mich hinauswachsen könnte. Im Sinne, dass mir nicht wieder die Knie zittern. Ging doch irgendwie, letzte Woche ...

Montag, 12. Oktober 2009

Spinne am Morgen ...

... bringt Kummer und Sorgen. So sagt man doch, oder?

Bei mir heute eine nicht abreißende Kette:

- mein kratzender Hals und eine ähnlich matt scheinende und sich gebende Tochter,

- gleich morgens der Wetterbericht mit Frostansage für die nächsten Tage, daraufhin Jubelschreie bei den Kindern (Schnee! Rodeln!) und Entsetzen bei mir - hatten wir nicht gerade noch 30 Grad?

- ein 90-Minuten-Schultag mit maximaler Ausbeute an Sinnlos-Ärger:
unsere Schule ist für eine statistische Erhebung des Landes "ausgewählt" , für die wir in den kommenden acht Wochen bei jeder (sic!) erstellten Kopie ein Exemplar einreichen und ein Formular ausfüllen sollen - ja GEHT´S NOCH? - ich beschließe, lieber acht Wochen lang ohne Arbeitsblätter zu unterrichten als mich dafür herzugeben;
und eine Elternklage, ich hätte im vergangenen Schuljahr Entschuldigungen verbummelt und die Zeugnisbemerkung zu Unrecht hineingeschrieben - leider kann ich dem Anwalt nie und nicht beweisen, dass ich eine Entschuldigung NICHT bekommen habe, ja was jetzt?

- zum Realisieren, dass der Herbst wirklich da ist: Heimweg zu Fuß im strömenden eiskalten Regen - brrr,

- eine mal wieder in der Schule verschwundene Regenjacke des Sohnes und stark abgeriebene Schuhecken der fast neuen Schuhe: dass er asymmetrisch Bobbycar fährt, wie man daraus ersehen kann, soll mir ja egal sein, aber dass er sich offenbar ständig über meine Alte-Schuhwerk-Regel hinwegsetzt, ist gleichermaßen ärgerlich (diese Schuhe werden dem anstehenden Herbstregen nun nicht mehr standhalten :-(( ) wie verwunderlich (dass mir das ständig entgangen sein soll - wer weiß, welche Dinge im Moment noch an mir vorbeiziehen, ohne dass ich von ihnen Notiz nehme ...)

- eine verschüttete Tasse Kaffee - gar nicht witzig, weil es im Treppenhaus geschah und unsere Treppenstufen so geartet sind, dass sich die hellbraune Flüssigkeit ihren Weg vom Dachgeschoss bis hinunter auf die Kellertreppe gebahnt hat - maximales Bäh,

- die vor lauter Ärgernissen verwechselte Startzeit des Klavierunterrichts, also "a bissele" (Tochters neues Wort) Verspätung,

- natürlich dann keinen Parkplatz bekommen, und als endlich einer frei wurde, hat sich so ein dynamisch-cooler Cabriofahrer vor mir reingedrängelt, der dann 10 Minuten später, als wir endlich auch mit ner Parklücke versorgt waren, genauso dynamisch-cool wieder ausparkte und uns dabei quasi über die Füße fuhr,

- na, und dann war schon klar was kommen musste: beim überfüllten Kinderarzt waren wir so hoffnungslos zu spät, dass wir heute nicht mehr drangekommen wären, also haben wir nur das Stuhlröhrchen geschnappt und versuchen unser Glück morgen nochmal (denn nein, die Bauchschmerzen der Tochter sind nicht weg, werden eher häufiger, und bisher findet er nix, unser guter Arzt - ja, das meine ich jetzt ernst: der ist wirklich gut)

Das reichte.

Ok, ok, kein wirklicher Kummer, keine wirklichen Sorgen dabei. Alles pillepalle, im Vergleich zu (*seufz*) ... weiß ich ja. Aber trotzdem geeignet, den Tag irgendwie nicht recht hell und mich jetzt ziemlich bettreif sein zu lassen.

Dabei war das heute morgen noch nicht mal `ne echte Spinne. Sondern eine Lebensmittelmottenmade, die sich an einem Fädchen von der Küchendecke mitten vor meine Nase hat hinabbaumeln lassen. Sowas habe ich noch nie erlebt - die werden ja immer infamer!
Und das gegen halb sechs Uhr morgens, wo ich mich mit diesen Viechern weder mental noch physisch auseinandersetzen mag ...

Freitag, 9. Oktober 2009

Das fängt ja früh an ...

Schulweg-Dialog, vor einer halben Stunde:

- "Mama, kennst du die Lara?"
- "Nein, wer ist das?"
- "Aus dem Chor. Die finde ich nett."
- "Ist die auch in der Zweiten?"
- "Nee, in der Dritten oder Vierten."
- "Und findet sie dich auch nett?"
- "Hm --- blöde Frage."

Wenn Ihr das verschämte Lächeln auf dem Gesicht meines Sohnes in dem Moment gesehen hättet, würdet Ihr die Post-Überschrift erst richtig verstehen ;-)

Dienstag, 6. Oktober 2009

Der Sohn als Vorbild

Nachher ist Elternabend. Alle Lehrer stellen sich in der Aula vor. Wie jedes Jahr.

Ein paar Hundert Eltern blicken dich erwartungsfroh an --- nimmste einfach das Mikrofon lässig in die Hand, und dann erzählste ein bisschen was über dich. Na los, stell dich nicht so an ...

Hm. Mir schlottern schon jetzt die Knie. Wie jedes Jahr. Eine Aula voller Zuhörer – das fühlt sich an wie in ´nem Fußballstadion reden!!!

Werde mir den Sohn als Vorbild nehmen. Der hat´s schließlich auch geschafft, gell ;-)

Mitleid – oder was sonst?

Jedermann weiß, dass es gute und schlechte Lehrer gibt. Und dass diese Klassifizierung nicht nur böswillig von Schülern und deren Eltern erdacht wurde, ist auch kein Geheimnis. Es gibt einfach Menschen, die – aus was für Gründen auch immer – offenbar nicht im richtigen Beruf gelandet sind. Und dort nun eben sind.

Einen solchen Kollegen habe ich auch. Immerzu gibt es über ihn Beschwerden, jeder weiß darum, Eltern und Schüler erzählen mir ungefragt (und ich winke immer ganz schnell ab, weil ich dies gar nicht hören mag), dass Herr X nicht erklären könne, dass sein Unterricht schlecht sei, dass man bei ihm nichts verstehe und dergleichen. Dass mit ihm kein leichtes Kooperieren ist, und dass Organisation und Strukturierung nicht gerade zu seinen Stärken zählen, das ist mir bei unserer versuchten Zusammenarbeit selbst aufgefallen. Und doch habe ich ihn immer als sehr freundlichen, höflichen Kollegen erlebt.

Nun, sein schlechter Ruf ist ja eigentlich nicht meine Angelegenheit. Beziehungsweise war es bis vor kurzem nicht – bis ich mich in den Ferien vor die Aufgabe gestellt sah, die Mathekurse der künftigen 12er einzuteilen. Da saß ich also mit den Schülerlisten, mit den vier Lehrernamen, und wusste genau, dass ich nun über Schicksale entscheide. Jedenfalls im Kleinen: über Mathenoten, über Glück oder Unglück in dem einen Fach. Entsprechend unbehaglich fühlte ich mich, entsprechend lange schob ich die Aufteilung vor mir her. Keinesfalls wollte ich ungerecht sein, keinesfalls jemanden bevorzugen, andere benachteiligen. Es lief auf ein Zufallsverfahren hinaus: Listen ausgedruckt, Schüler nach 1-2-3 abgezählt, Lehrernamen den Zahlen zugelost – und dann gleich bei der Schulleitung abgegeben, was sich als Aufteilung ergeben hatte. Lieber nicht genauer nachschauen, wer es dabei gut und wer hart getroffen hatte … dachte ich mir.

Es kam wie es kommen musste: Es hagelte Proteste, ziemliche Proteste. Einige Schüler beantragten, dass sie den Kurs wechseln dürften. Nicht mehr mein Problem, dachte ich, soll das die Schulleitung entscheiden. Und das tat sie auch, indem sie genau zwei Anträge (von mehreren) bewilligte. Leichtes Kopfschütteln bei mir (warum gerade diese zwei –und ist das nicht ungerecht gegenüber allen anderen?), größeres Kopfschütteln bei der betroffenen Kollegin, die jetzt zwei Schüler mehr im Kurs hat, aber Genaueres zu diesem Vorgang wollte ich gar nicht wissen.

Glücklicherweise weiß ich wirklich nichts Genaueres, denn das hätte mir die gestrige Situation noch erschwert. Steht nämlich plötzlich Herr X vor mir, unsicher lächelnd, sein Blick ein einziges Fragezeichen, und spricht mich auf die beiden „geflüchteten“ Schülerinnen an. Ob ich wüsste warum, ich hätte doch vorher die Kurse eingeteilt, und ihm habe niemand etwas von einem Kurswechsel gesagt. Er habe es heute zufällig von anderen Schülern erfahren.
WIE BITTE??? ZUFÄLLIG???
Warum lässt man diese Information denn hintenherum zu ihm dringen?
Warum bitte hat die Schulleitung ihn nicht direkt informiert?

Und wie er da so traurig-unsicher vor mir steht, weiß ich überhaupt nicht was ich sagen soll. Na klar, irgendetwas scheint nicht rund zu laufen in seinem Unterricht – so viel, so flächendeckendes Schülerempfinden kann nicht irren. Also könnte ich denken „selbst schuld“. Denke ich aber nicht, in dem Moment. Denn:
Irgendwie scheint er es selbst nicht zu merken, oder er weiß wenigstens nicht, wie aus diesem höchst unbefriedigenden Zustand herauskommen.
Irgendwie ist es ihm wohl nicht gegeben, die Inhalte unseres Fachs Kindern weiterzuvermitteln.
Irgendwie landete er dennoch in diesem Beruf.
Irgendwie hatte niemand am Anfang seines beruflichen Werdegangs den Mut, ihn davon abzubringen.
Irgendwie funktioniert unser Berufsbeamtentum nun mal so, dass er nicht kündbar ist, nicht versetzt werden kann.
Irgendwie muss er ja seine Familie ernähren.
Irgendwie ist er in diesem Beruf in ein Alter gekommen, dass ihm andere Wege nun nicht mehr offen stehen.

Oh je. Er tut mir leid, wie ich ihn so vor mir stehen sehe. Blankes Mitleid. Denn noch nie habe ich so deutlich sehen können, wie gut er um seine Situation weiß und wie schmerzhaft das für ihn selbst ist.
Keine Ahnung, wie man ihm helfen könnte. Überhaupt: ich, die um 10 Jahre Jüngere, fühle mich sowieso nicht berechtigt, ihn daraufhin anzusprechen, geschweige denn, meine kollegiale Hilfe anzubieten. Ohnehin erlebte ich ihn bisher als wenig kompromissfähig, als eher stur, so dass jeglicher Versuch, unseren Unterrichtsgang aufeinander abzustimmen, von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Ich weiß, dass er sich an unseren gegenseitigen kollegialen Hospitationen nicht beteiligen wird, weil ihm dazu der Mut fehlt. Ich vermute, dass sich an seinem Unterricht nichts ändern wird, niemals. Ich ahne, dass er bis an das Ende seiner beruflichen Tage dieses Misserfolgs- und Versagenserleben wird ertragen müssen.
In mir ist Mitleid für diesen Mann, wie er da so geknickt vor mir steht. Mitleid - oder was sonst???


PS.
Ich weiß nicht, ob ich genauso empfinden würde, wäre Herr X der Lehrer eines meiner Kinder. Ich weiß genauso wenig, wie ich auf Dauer meine Sichtweise als Lehrerin und die als Schulkind-Mutter werde vereinbaren können, sind dies doch zwei Rollen, die in unserem allseits mängelbehafteten Schulsystem fast zwangsläufig zur Kollision führen müssen. Ich bereite mich also innerlich darauf vor, mit einem Spagat zu leben: Je älter meine eigenen Kinder werden, umso deutlicher wird mir die „andere Seite“ des Systems vor Augen geführt werden.
Was tun? Versuchen, zwischen beiden Seiten, beiden Sichtweisen zu vermitteln … zunächst im Innern das Verständnis für alle Seiten zu bewahren. Und dann vielleicht im Äußeren, soweit mein winziger Wirkungskreis dies zulässt.
Nur: Was hieße das jetzt konkret bei unserem traurigen Herrn X und seinen unglücklichen Schülern???

Sonntag, 4. Oktober 2009

Abend



Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so dass es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

(R. M. Rilke)



Dankbar für jeden Tag, in dem das Leben Gestirn ward ... und dankbar für die Stein-Tage. Auch wenn das Ja dazu immer wieder schwer fällt.

Herbst

Unser heutiger Nachmittagsausflug auf´s benachbarte Feld ...




Samstag, 3. Oktober 2009

Hut ab!

Gestern abend in der Aula der Grundschule: ca. 200 Kinder haben sich zur "Mathenacht" versammelt, alle höchst aufgeregt, alle durcheinander redend, alle höchst quirlig.
Die Grundschullehrerinnen stehen da vorne, geduldigst, immer wieder wartend, immer wieder die Kinder zur Ruhe und zum Sitzen bringend - und selbst bei allem Lärm Ruhe hoch drei ausstrahlend.

Wirklich: 28 Stunden in der Woche vor Klassen mit 30 derart lebhaften Kindern stehen, denen das Ein-mal-Eins des respektvollen Miteinanders in einer Gruppe vermitteln, die Ruhe bewahren, bei allem was ringsum geschieht, jede Träne trocknen, jedes aufgeschürfte Knie mit Pflaster versorgen, jede der vielen kleinen und großen Sorgen auffangen, mit den Kindern kuscheln, die es brauchen, den Kindern Grenzen setzen, die zu Hause keine bekommen - und ganz nebenher auch noch Lesen und Schreiben beibringen - ich bewundere das unendlich!

Bei meinen quasi-erwachsenen 12ern, bei meinen stillen, emsigen 10ern, und selbst bei meinen lebendigen 7ern, die ja immerhin die Grundregel ("Alle hören zu, wenn eine(r) spricht") schon ein Jahrzehnt lang in Kindergarten und Schule erlernen und - ja, man kann so sagen - wenigstens theoretisch verinnerlicht haben - bei all diesen kann ich mich wie im Müttergenesungswerk fühlen. Verglichen mit dem, was die hier an der Grundschule leisten.

Und dann kommmen sie noch am Freitag abend für 4 Stunden her (von der Vorbereitungszeit ganz zu schweigen) und zaubern in die Augen von 200 Grundschülern ein Leuchten, wie ich es lange nicht gesehen habe ...

Also wirklich: Ich ziehe meinen (nichtvorhandenen) Hut vor diesen Lehrerinnen. Und bin einfach nur zutiefst dankbar. Für das Leuchten in den Augen auch meines Sohnes, und für alles andere.

Mein Lieblingsdialog ...

... in den Nachwende- und Nachvereinigungsjahren, als ich bereits in Tübingen und Heidelberg lebte:

- „Ach, du kommst aus dem Osten? Das merkt man dir ja gar nicht an.
- „ Ähm, soll das jetzt ein Kompliment sein?

Ich muss dazu sagen, dass ich einige Jahre brauchte, um diese Antwort zu finden und sie schmerzfrei artikulieren zu können. Dem jeweiligen Gegenüber war das dann meist sehr peinlich.

Aber es stimmte ja: Da waren Riesenunterschiede. Selbst wenn man aus einem „systemferneren“ Elternhaus kam.

Kürzlich hat mich jemand gefragt, ob man einem Menschen anmerken könne, dass er im Osten aufgewachsen ist.
Ich weiß nicht. Ich will mich bei diesem Glatteisthema mit Verletzungspotential nicht zu weit aus dem Fenster hängen. Aber ich glaube schon, dass es einen Unterschied macht, in welchem System man sozialisiert worden ist. Bei mir spüre ich das immer wieder, auch wenn mein Gegenüber es mir nicht mehr anmerken kann, am äußeren Bild schon gar nicht.
Da erlebe ich in mir oft (inneres) Kopfschütteln über so manches hier, eine andere Sichtweise, Andersreagieren, ein wenig Fremdheitsgefühl. Ein bisschen wie im Ausland. (Nicht falsch verstehen: Ich meine keine (N)ostalgie und will mitnichten zurück, auch nicht partiell. Nein, gar nicht. Ich bin ganz gern im Ausland, sozusagen.)

In diesem Sinne grüße ich heute besonders alle anderen Ost-West-Ehen und wünsche allzeit gute Verständigung ...

Freitag, 2. Oktober 2009

Koalitionsbildung

Nein, nicht schwarz-gelb. Eben bei uns im Treppenhaus.

Der Sohn soll aufräumen, bevor er gleich in die Schule zur "Mathenacht" verschwindet. Taube Ohren seinerseits, eine leicht gereizt werdende Stimme meinerseits - bis er irgendwas durchs Treppenhaus pfeffert.

Da höre ich die Tochter zu ihm tapsen und sich ganz sanft mit ihm solidarisieren: "Gell, Mama ist doof, gell?!"

Hach, ich liebe es, wenn meine Kinder zueinander halten, wenn sie füreinander einstehen, wenn das eine das andere umarmt, beschützt, verteidigt, mit Worten liebkost, umsorgt. Wenn sie ihm, als er auswärts übernachtet, beim Frühstück eine Laugenbrezel beiseite legt ("für morgen"). Wenn er ihr geduldig die "echten" Spielregeln erklärt und doch hinterher seufzend ("Ach, du bist eben noch zu klein.") nach ihren Regeln mitspielt. Wenn er ihr stundenlang vorliest und vorsingt. Wenn sie ihm wortlos die vergessene Brotdose in den Ranzen packt, damit er nicht ohne Frühstück in die Schule geht.
Hach, ich bin gerade ganz gerührt.

Auch wenn sich die Koalition in diesem Fall gegen mich richtet. Und auch, wenn wir über den inflationären Gebrauch des Wörtchens doof bei Gelegenheit werden sprechen müssen.

Donnerstag, 1. Oktober 2009

Arbeitsalltag

Also manchmal fragt man sich wirklich …
Heute zum Beispiel.

Was habe ich heute nicht alles getan in meinen 8 Stunden an der Schule:

- 60 Taschenrechner mit Barcodes beklebt, damit sie endlich an Schüler ausgeliehen werden können,
- eine Liste von 25 Schülernamen 4mal per Hand in diverse Formulare übertragen (das muss so und geht nicht anders),
- von 26 Schülern 660 Euro eingesammelt, quittiert, sortiert, gezählt (wieder und wieder, wie das eben so ist, wenn man nicht gescheit zählen kann) und an die entsprechenden "Töpfe" in der Schule weitergereicht, sprich überwiesen,
- zusammen mit zwei Schülern im ganzen Schulhaus den fehlenden Tisch gesucht, gefunden und mühevoll die Treppe runter getragen, damit im Klassenraum jeder Schüler seinen eigenen Arbeitsplatz hat,
- zusammen mit einer Kollegin ein Bücherregal aufgebaut, weil sich im Lehrerzimmer schon alles auf dem Boden stapelt,
- für ein Experiment mehrere benutzte Glasscheibchen zunächst gereinigt (wegen eines spontan aufspringenden Fensters – ja, das klemmt schon ein Jahr lang – windete es mir dabei Unmengen an Rußkrümelchen in der Gegend herum, worauf ich auch den gesamten Physik-Vorbereitungsraum zu reinigen hatte ;-(( ), dann die Scheiben erneut berußt, was mangels vernünftiger Kerzen (die Haushaltsmittel für dieses Jahr sind erschöpft) gefühlt Stunden dauerte,
- ganz solidarisch versucht, einer Kollegin Laptop und Beamer in Gang zu setzen, damit sie im Unterricht ´nen Film zeigen kann, wobei wir allerdings wenn nicht am Einloggen, so am richtigen Verkabeln der Geräte scheiterten - die sich um uns bildende Traube von Kollegen bekam es auch nicht hin,
- Kopierer-Papierstaus entfernt, immer wieder an neuen Stellen, so lange, bis auch der zweite Kopierer endgültig streikte und wir heute alle (= alle Kollegen der Schule!) ohne Arbeitsblätter unterrichteten.

Als kleine Draufgabe: Auch die Kaffeemaschine streikte, und für meine Bemühungen, ihr dennoch einen Kaffee zu entlocken, verwendete ich weitere Minuten meiner Arbeitszeit.

Tja, das war´s auch schon.
Ach ja, unterrichtet habe ich noch ein wenig, etwa drei Stunden lang. Und ein bisschen gelacht. Jedenfalls als wir mit vier Kollegen gleichzeitig von allen Seiten die Köpfe und Oberkörper in den Kopierer steckten, um des Papierstaus Herr zu werden. Das hatte was. Wir fanden´s komisch. (Besser als über die Zustände zu weinen, jedenfalls.)

Nicht, dass mich jemand falsch versteht. Ich liebe meinen Beruf. Ich beklage mich auch nicht über zu viel Arbeit – nein, wirklich nicht.

Ich würde nur gern in Ruhe meine Arbeit machen. Also die, für die ich einst eingestellt worden bin, die eigentlich mein Job ist. (Und für die ich, im übrigen, als A13-Beamtin auch stattlich entlohnt werde.)

Ich würde zum Beispiel gern mal einen ganzen Tag lang einfach nur unterrichten. Mit Arbeitsblättern und Film und so – oder meinetwegen auch ohne.
Ich würde gern, wenn zwischen den Unterrichtsstunden Zeit bleibt, die Stunden noch ein wenig vorbereiten, meine Gedanken ganz auf den Unterricht konzentrieren können, mich innerlich drauf einstellen, ohne dass mich nervige Nebentätigkeiten ablenken.
Ich würde gern in Ruhe über Schüler X nachdenken und mich dann mit ihm zusammensetzen, um gemeinsam zu überlegen, wie er die 10. doch noch schaffen kann.
Ich würde gern die Eltern von Schülerin Y einladen, weil ich wissen möchte, was sie so unendlich bedrückt.
Ich würde mich gern mit Kollegin Z in Ruhe zusammensetzen, weil unser Kollegiums-Hospitationsprojekt seit Wochen ruht, da keine von uns jemals Zeit hat dafür.

Ja, das alles würde ich wahnsinnig gern tun – den ganzen Tag lang, ungestört, konzentriert. Das wäre meine Arbeit, das wäre mein Traumjob.

Stattdessen werden mich morgen vermutlich wieder Listen, Aufkleber, Papierstaus, falsche Passwörter und fehlende Stühle beschäftigen. Menno.
Hoffentlich hat sich die Kaffeemaschine wenigstens einbekommen bis morgen. Und hoffentlich haben auch die Kollegen ihren Humor nicht verloren, bis morgen.
Wenigstens ein bisschen lachen möchte ich darüber können. Wenigstens das. Falls wir wieder zu viert die Köpfe in den Kopierer stecken müssen …