Dienstag, 6. Oktober 2009

Mitleid – oder was sonst?

Jedermann weiß, dass es gute und schlechte Lehrer gibt. Und dass diese Klassifizierung nicht nur böswillig von Schülern und deren Eltern erdacht wurde, ist auch kein Geheimnis. Es gibt einfach Menschen, die – aus was für Gründen auch immer – offenbar nicht im richtigen Beruf gelandet sind. Und dort nun eben sind.

Einen solchen Kollegen habe ich auch. Immerzu gibt es über ihn Beschwerden, jeder weiß darum, Eltern und Schüler erzählen mir ungefragt (und ich winke immer ganz schnell ab, weil ich dies gar nicht hören mag), dass Herr X nicht erklären könne, dass sein Unterricht schlecht sei, dass man bei ihm nichts verstehe und dergleichen. Dass mit ihm kein leichtes Kooperieren ist, und dass Organisation und Strukturierung nicht gerade zu seinen Stärken zählen, das ist mir bei unserer versuchten Zusammenarbeit selbst aufgefallen. Und doch habe ich ihn immer als sehr freundlichen, höflichen Kollegen erlebt.

Nun, sein schlechter Ruf ist ja eigentlich nicht meine Angelegenheit. Beziehungsweise war es bis vor kurzem nicht – bis ich mich in den Ferien vor die Aufgabe gestellt sah, die Mathekurse der künftigen 12er einzuteilen. Da saß ich also mit den Schülerlisten, mit den vier Lehrernamen, und wusste genau, dass ich nun über Schicksale entscheide. Jedenfalls im Kleinen: über Mathenoten, über Glück oder Unglück in dem einen Fach. Entsprechend unbehaglich fühlte ich mich, entsprechend lange schob ich die Aufteilung vor mir her. Keinesfalls wollte ich ungerecht sein, keinesfalls jemanden bevorzugen, andere benachteiligen. Es lief auf ein Zufallsverfahren hinaus: Listen ausgedruckt, Schüler nach 1-2-3 abgezählt, Lehrernamen den Zahlen zugelost – und dann gleich bei der Schulleitung abgegeben, was sich als Aufteilung ergeben hatte. Lieber nicht genauer nachschauen, wer es dabei gut und wer hart getroffen hatte … dachte ich mir.

Es kam wie es kommen musste: Es hagelte Proteste, ziemliche Proteste. Einige Schüler beantragten, dass sie den Kurs wechseln dürften. Nicht mehr mein Problem, dachte ich, soll das die Schulleitung entscheiden. Und das tat sie auch, indem sie genau zwei Anträge (von mehreren) bewilligte. Leichtes Kopfschütteln bei mir (warum gerade diese zwei –und ist das nicht ungerecht gegenüber allen anderen?), größeres Kopfschütteln bei der betroffenen Kollegin, die jetzt zwei Schüler mehr im Kurs hat, aber Genaueres zu diesem Vorgang wollte ich gar nicht wissen.

Glücklicherweise weiß ich wirklich nichts Genaueres, denn das hätte mir die gestrige Situation noch erschwert. Steht nämlich plötzlich Herr X vor mir, unsicher lächelnd, sein Blick ein einziges Fragezeichen, und spricht mich auf die beiden „geflüchteten“ Schülerinnen an. Ob ich wüsste warum, ich hätte doch vorher die Kurse eingeteilt, und ihm habe niemand etwas von einem Kurswechsel gesagt. Er habe es heute zufällig von anderen Schülern erfahren.
WIE BITTE??? ZUFÄLLIG???
Warum lässt man diese Information denn hintenherum zu ihm dringen?
Warum bitte hat die Schulleitung ihn nicht direkt informiert?

Und wie er da so traurig-unsicher vor mir steht, weiß ich überhaupt nicht was ich sagen soll. Na klar, irgendetwas scheint nicht rund zu laufen in seinem Unterricht – so viel, so flächendeckendes Schülerempfinden kann nicht irren. Also könnte ich denken „selbst schuld“. Denke ich aber nicht, in dem Moment. Denn:
Irgendwie scheint er es selbst nicht zu merken, oder er weiß wenigstens nicht, wie aus diesem höchst unbefriedigenden Zustand herauskommen.
Irgendwie ist es ihm wohl nicht gegeben, die Inhalte unseres Fachs Kindern weiterzuvermitteln.
Irgendwie landete er dennoch in diesem Beruf.
Irgendwie hatte niemand am Anfang seines beruflichen Werdegangs den Mut, ihn davon abzubringen.
Irgendwie funktioniert unser Berufsbeamtentum nun mal so, dass er nicht kündbar ist, nicht versetzt werden kann.
Irgendwie muss er ja seine Familie ernähren.
Irgendwie ist er in diesem Beruf in ein Alter gekommen, dass ihm andere Wege nun nicht mehr offen stehen.

Oh je. Er tut mir leid, wie ich ihn so vor mir stehen sehe. Blankes Mitleid. Denn noch nie habe ich so deutlich sehen können, wie gut er um seine Situation weiß und wie schmerzhaft das für ihn selbst ist.
Keine Ahnung, wie man ihm helfen könnte. Überhaupt: ich, die um 10 Jahre Jüngere, fühle mich sowieso nicht berechtigt, ihn daraufhin anzusprechen, geschweige denn, meine kollegiale Hilfe anzubieten. Ohnehin erlebte ich ihn bisher als wenig kompromissfähig, als eher stur, so dass jeglicher Versuch, unseren Unterrichtsgang aufeinander abzustimmen, von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Ich weiß, dass er sich an unseren gegenseitigen kollegialen Hospitationen nicht beteiligen wird, weil ihm dazu der Mut fehlt. Ich vermute, dass sich an seinem Unterricht nichts ändern wird, niemals. Ich ahne, dass er bis an das Ende seiner beruflichen Tage dieses Misserfolgs- und Versagenserleben wird ertragen müssen.
In mir ist Mitleid für diesen Mann, wie er da so geknickt vor mir steht. Mitleid - oder was sonst???


PS.
Ich weiß nicht, ob ich genauso empfinden würde, wäre Herr X der Lehrer eines meiner Kinder. Ich weiß genauso wenig, wie ich auf Dauer meine Sichtweise als Lehrerin und die als Schulkind-Mutter werde vereinbaren können, sind dies doch zwei Rollen, die in unserem allseits mängelbehafteten Schulsystem fast zwangsläufig zur Kollision führen müssen. Ich bereite mich also innerlich darauf vor, mit einem Spagat zu leben: Je älter meine eigenen Kinder werden, umso deutlicher wird mir die „andere Seite“ des Systems vor Augen geführt werden.
Was tun? Versuchen, zwischen beiden Seiten, beiden Sichtweisen zu vermitteln … zunächst im Innern das Verständnis für alle Seiten zu bewahren. Und dann vielleicht im Äußeren, soweit mein winziger Wirkungskreis dies zulässt.
Nur: Was hieße das jetzt konkret bei unserem traurigen Herrn X und seinen unglücklichen Schülern???

7 Kommentare:

  1. liebe uta,
    solche lehrer gibt es wohl an jeder schule und ich denke schon, dass es zum großen teil an ausbildung und system liegt. vor nicht all zu langer zeit, standen in bawü ausgebildete gymnasiallehrer zum ersten mal im ref vor einer klasse. ich kann mich auch noch gut daran erinnern, wie heulende referendare klassenzimmer fluchtartig verließen.
    dann hast du etliche jahre studiert und der arbeitsmarkt bietet kaum alternativen, außerdem lockt das beamtentum, die ferien...
    als ich noch im psychsozialen dienst arbeitete hatte ich immer mal wieder mit lehrern zu tun, burned-out, herzinfarkt und manchmal auch alkoholprobleme nach jahrelangem unglücklichsein im job.
    vielleicht wäre eine supervision auch nicht schlecht verbunden mit hospitationen im unterricht. nicht die kollegen gucken oder eine übergeordnete behörde, sondern eine person, die von vorneherein helfen und unterstützen will und die eine neutrale position inne hat. oh, es gäbe da noch so viel zu diskutieren und andenken, doch ich darf meine heimischen pflichten nicht vernachlässigen, obwohl die heute gar nicht spannend sind.
    liebe grüße heike

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  2. Liebe Heike,

    Du hast Recht, es gäbe tausenderlei Dinge am System zu verbessern, nur liegt das oft nicht in meiner/unserer Befugnis, das kann frustrieren. Eben deswegen haben wir bei uns schulintern diese kollegialen Hospitationen eingeführt ... als kleinen Schritt. Nur ist es keine Revolution, natürlich.
    Und was auch schwierig ist: heutzutage will niemand mehr Lehrer werden, der Beruf hat kein Ansehen, trotz der (scheinbar) günstigen Rahmenbedingungen ist es ein offenes Geheimnis, dass man sich darin krank arbeiten kann.
    In meinen Fächern herrscht solch ein Lehrermangel, dass wirklich jeder von der Straße weg eingestellt wird. Mit diesen Folgen ...
    Menno, ich darf gar nicht weiter drüber nachdenken. Und ja, es gäbe viel anzudenken, das ist immer immer mein Thema, immer in der Hoffnung, dass man eben doch ein Fünkchen ändern kann. Wenigstens ein klitzekleines bisschen was. Oder?
    Liebe Gute-Nacht-Grüße
    Uta

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  3. Zu meiner Schulzeit war es zumindest so, daß einem solche Lehrer im Leistungskurs und in sonstigen Abi-relevanten Fächern erspart blieben.

    Mein Mitleid mit besagtem Lehrer hält sich sehr in Grenzen, denn er hätte anders gekonnt. Und wenn er nicht hinschaut und was verändert, ist das seine Verantwortung. Die Schüler hingegen sind bzw. werden ihm ausgeliefert. Die können nicht anders.

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  4. @Noga:
    Sicherlich, als Mutter würde ich anders denken; als Schülerin haben wir solche Lehrer irgendwie wie schlechtes Wetter genommen - im nächsten Jahr wurde es dann in der Regel wieder besser. Und man hat dabei wenigstens etwas anderes erlernt: mit Menschen und Situationen klarzukommen, die man sich freiwillig nicht aussuchen würde - diese Fähigkeit braucht man ja auch für´s Leben.
    Ich meinte mit meinem Post nur, dass es bei dieser "Medaille" (die ja allzuoft in der Presse breitgetreten wird), auch eine andere Seite gibt - wie bei allem. Dass er eben so ganz frei nicht war und ist - wann hätte er denn noch anders gekonnt: vor 20-30 Jahren vielleicht? Und manche Persönlichkeitseigenschaften, die ein Lehrer dringend braucht, lassen sich nicht erlernen, bei noch so viel Mühe und Hinschauen nicht. Die Ausbilder am Beginn seiner "Karriere" hätten reagieren müssen - er jetzt hat nur die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit oder Krank- und Unglücklichwerden im Beruf.
    LG Uta

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  5. Die Nummer von wegen "lernen mit Menschen und Situationen klarzukommen, die man sich nicht ausgesucht hat" ist doch eine Rationalisierung.
    Man stelle sich einen anderen Bereich vor, wo Kollegen, Untergebene, Kunden etc. von Unfahigkeit und schlechten Arbeitsergebnisse eines Menschen betroffen sind. Da würde niemand sagen, die sollen lernen, mit Menschen und Situationen klarzukommen, die sie sich nicht ausgesucht haben.
    Es gibt genug andere Situationen, wo Kinder / Jugendliche das lernen können ohne schlechten Lehrern ausgesetzt zu sein, die dafür noch außerordentlich gut bezahlt werden. Es spricht für mangelnde Wertschätzung Kindern gegenüber, sowas überhaupt nur denken zu können. Zynismus ist es obendrein.

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  6. Liebe Noga,

    diese "Nummer" war mitnichten als Plädoyer für schlechte Lehrer zu verstehen. Ich habe von meinen eigenen Erfahrungen erzählt, wie wir damals, vor über 20 Jahren, solche Lehrer „verarbeitet“ haben. Ausgeliefert fühlten wir uns nicht, geärgert haben wir uns manchmal, öfter aber gelacht. A la Feuerzangenbowle.
    Diesen Zugang, inkompetente Telekom-Mitarbeiter, Versicherungsvertreter und sonstige unfähige Mitarbeiter der freien Wirtschaft, mit denen man täglich zu tun hat, mit Humor zu nehmen, kann ich übrigens nur weiterempfehlen. Es erleichtert das Leben ungemein ;-)
    Aber klar: ein 10jähriger vermag das gar nicht und ein 18jähriger nur bedingt, zumal in einem Abhängigkeitsverhältnis. Nachahmenswert finde ich die Sichtweise einer befreundeten Vierfachmutter, solche Lehrer „wie schlechtes Wetter“ zu nehmen, welches im nächsten Jahr wieder vergehen wird.
    Solidarität mit dem Kind gegen den Lehrer, ein gemeinsames Feindbild nützt in der Regel niemandem. Eher schon mit dem Kind zusammen an der Einsicht zu arbeiten, dass auch bei einem schlecht erklärenden, sich schlecht durchsetzenden Lehrer gelernt werden muss und kann, dass dies allerdings mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung verlangt. (Übrigens: die Schüler, die ich von Herrn X übernehme, sind nicht schlechter ausgebildet als die aus anderen Klassen, fällt mir immer wieder auf. Das Lernen bei ihm hat sie nur mehr angestrengt.)

    Nein, ich tue mir selbst und meinen Kindern keinen Gefallen, wenn ich mich auf eine einseitige, polarisierte Sicht zurückziehe, wenn ich mich selbst völlig aus der Verantwortung nehme, wenn ich nicht auch den Blickwinkel meines Gegenübers anschaue.
    Das ist mein persönliches Credo, was ich auch an meine Kinder weitergeben möchte. Und an meine Schüler, wenn ich zum Beispiel als Klassenlehrerin bei einem Konflikt zwischen meiner Klasse und einem Fachlehrer als Mediatorin fungiere. Beide Seiten haben Anteil am Konflikt, und beide Seiten sollten aufeinanderzu gehen. Immer. Das können auch Kinder in der Schülerrolle schon lernen.

    Wohlgemerkt: Ich spreche hier weder von psychisch grausamen, die Kinder unter Druck setzenden noch von arbeitsunwilligen Lehrern – nein, da kenne ich kein Pardon. Sondern lediglich von didaktischen Mängeln, sich auf Niveau und Sprache der Kinder einzulassen, und von mangelnder Autorität. Beides kann nur begrenzt erlernt und verbessert werden, zumal in unserer suboptimalen Lehrerausbildung und ohne Supervision, welche im Schulsystem nicht vorgesehen ist.

    Und ja, wir verdienen gut, kein Zweifel, aber: An meiner Schule allein sind drei ganze Stellen in meinen Fächern nicht besetzt - die Lehrer dieser Fächer sind im ganzen Land "ausverkauft". SO attraktiv kann das Einkommen, bezogen auf die zeitlichen und nervlichen Anforderungen des Berufs, also nicht sein. (Nicht als Jammern verstehen, nur: Warum wohl will niemand diesen Beruf mit "außerordentlich guter Bezahlung" ergreifen? Darüber sollte nachgedacht werden - nicht von uns beiden, sondern von der Politik.)

    LG Uta
    (die Ihr Urteil, ich würde Kindern mit mangelnder Wertschätzung und Zynismus begegnen, etwas übereilt findet, wenn Sie nur meine kurzen Texte hier kennen; die Kinder, die von meiner täglichen Arbeit „betroffen“ sind, und deren Eltern, schätzen mich übrigens anders ein …)

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  7. Ich habe diese eine Bemerkung als "Zynismus" bezeichnet. Wie Sie insgesamt mit Schülern, Eltern etc. umgehen, kann ich nicht wissen.

    Ich habe den Eindruck, daß der Druck, der in der Schule vorhanden ist / ausgeübt wird, stärker ist als früher.

    Schön, wenn eine Mutter schlechte Lehrer ähnlich wie Wetterphänomene einordnen kann. Das erscheint mir fast als Luxus, denn es setzt intakte Verhältnisse voraus, die die Lehrer"qualität" kompensieren können.

    Aber was ist mit den Schülern, die diese Ressourcen nicht haben und dann bedauerlicherweise auf der Strecke bleiben.

    Warum es für Lehrer keine Supervision gibt - außer sie organisieren sich das selbst - kann ich nicht nachvollziehen. Es gibt doch für jede Schulart Lehrerverbände und andere Interessenvertretungen für Lehrer. Oder wird Supervision letztlich doch nicht gewünscht?

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