Samstag, 4. Juli 2015

Vor vier Wochen - Tag 6: Klink - Drosedow


Wenn ich die Brille nicht aufsetze, sehe ich die Dauercamper am Horizont nicht, ich darf mich also noch ein wenig in der Wildnis wähnen, bevor ich mich ans Chipkartenduschen wage. Und ans Alles-langsam-Angehen. Ja, die Zeit zu vergessen und das zu tun, was man gemeinhin trödeln nennt, das braucht manchmal Mut. Ich bin so ein Fall: Langsamkeit fällt mir ausgesprochen schwer. Muss ich üben, dringend. Weil ich mich sonst in meinen andauernden Bemühungen, alles zu optimieren, Abläufe und Geschwindigkeiten und so, selbst hinweghetzen werde.




So Morgengedanken über das Vergehen von Zeit:
Fahre ich, ist eine Stunde prall gefüllt. So viel Welt fließt vorbei. Ich schaue alles an, versuche manches festzuhalten, komme von der äußeren in eine innere Bewegung.
Sitze ich, ist eine Stunde weg wie nichts. Ohne dass Welt des Wegs kommt, scheint alles still zu stehen. Außer der Uhrzeiger.
Was ist die Substanz dieses stillen Nichts'? Was bleibt von ihr in der Rückschau? Kann man Stille überhaupt anschauen? Hat sie etwas mit rückwärts und vorwärts, mit früher und später zu tun? Oder ist Stille ein uns zeitlos umgebender Nährboden?
So Morgenirrundwirrgedanken halt.




Nebenbei packt sich mein Geraffel - wie sonst auch - nur langsam ein. Erst irgendwann bin ich auf dem kleinen Pfad am Müritzsee, der nach Waren führt.




Zunächst ans Ufer. Mit einer anheimelnden Brücke, einfach weil das Wort schon ein Vorgriff auf das Übermorgen in Berlin ist. (Nur das t ist zuviel. Mir war das nicht bewusst: Kiez ist gar kein originär Berliner Wort:))






Dann meine gute Tourtradition fortführen: Vormittags auf einen Marktplatz setzen, mit Milchkaffee natürlich, und zuschauen. Zuschauen beim Leben, beim Unterhalten, beim Einkaufen, beim Hasten, beim Schlendern, beim Schubsen, beim Treibenlassen, beim Lebensgefühl dieser Stadt eben. Hier in Waren ist endlich wieder ne Stadt, hier lebt es. Die beiden Frauen etwa, deren Räder hier im Bild sind, ... doch das würde jetzt zu weit führen.




Kurz vor Mittag beginne ich meine Bewegung auf das nächste Ziel zu: die Havelquelle. Zunächst durch einen Zipfel Müritz-Nationalpark. Ganz benommen von dieser wirklich besonderen Waldeslandschaft, rausche ich ohne ein Bild hindurch. Erst an der Ecke, wo alle Welt Fischadler mit den Augen sucht (warum nur kann ich Bio einfach nicht? mir würde es überhaupt nichts bringen, selbst wenn ich sie am Horizont fliegen sehen würde ...), da halte ich inne. Der Grund sind nicht die Großvögel, sondern ein älteres Ehepaar, welches verwirrt einen Weg sucht. Ich versuche mit Karte, Navi, Sonnenstand und rationalen Überlegungen zu helfen, vermutlich erfolgreich - die Leute aber drehen sich einfach um und gehen. Ja, in die von mir ermittelte Richtung. Nein, ohne ein Mini-Wort des Dankes oder Abschieds. Ich starre noch ein Weilchen irritiert hinterher.




Meine Richtung jedenfalls ist Ankershagen, dort gibt es die Heinrich-Schliemann-Schule zum Verkauf (oder war das eine andere Schule in einem anderen Dorf?). Ich kaufe zunächst mal keine Schule, sind ja Ferien.




Weiter zur Havelquelle, die hat sich gut versteckt. Und ist leider steinisch inszeniert. Und von einer Radlerhorde okkupiert. (Doch, ich habe Verständnis, dass nicht alle Menschen als Alleinradler unterwegs sein wollen. Ich habe nur kein Verständnis für das mit Großgruppen einhergehende Herumgebrülle.)
Jedenfalls: Auf diese Fotos warte ich eine halbe Stunde. Vertreibe mir die Zeit mit Mittagessen. Zuweilen kann ich den Impuls nachzufragen kaum noch unterdrücken. Es macht mich ganz kirre, wenn vor meinem Ohr halbe Plots dargeboten werden, ohne dass man mich einweiht, warum denn die Schwiegermutter nun vorgestern Schwein gehabt habe und wieso denn Herr K das immer schon alles gewusst habe und so. Brüllgespräche in Andeutungen sind wie Handygespräche im Zug.






Die Weiterfahrt wird hügelig, Endmoräne halt. Dass Norddeutschland flach ist, ist nur ein Gerücht. Zum Glück komme ich heute endlich in ein meditatives Fahren hinein, schaue nicht mehr ständig auf Kilometerstände, Durchschnitte, Tempi, maximale Kraft, sondern lasse es laufen wie es kommt. Ich habe das schon einige Male bemerkt: in diesem Zustand spüre ich die Hügel nicht, empfinde ich sie nicht als schwer, nicht als hoch, nicht als anstrengend. Der Körper bewegt sich von allein. Hat was vom Gefühl des Fliegens. Jedenfalls stelle ich mir Fliegen so vor.




Irgendwo auf dem Weg baut man mitten durch den Wald gerade 'ne Straße für mich. Ich rolle am Bagger vorbei und verfestige mit meinem Rad die noch nicht verfugten Platten. Mein heutiger Beitrag zum Aufbau Ost.




Und dieses Bild hier, auf dem sieht man nicht viel - das ist mir schon klar. Es geht aber nicht ohne. Moorlandschaft, ich fahre durch so viel ursprüngliche Natur.




Und durch so viel geborgenheitsschenkendes Grünland.




Gegen Ende des Tages tauchen lang bekannte Ortsnamen auf, Kindheitsurlaube wiedererstehen vor dem inneren Auge.




Der See, in dem ich als Kind beinahe erfroren wäre - immer wenn wir auf dem fließwasserfreien Campingplatz morgens in den See mussten, der Körperpflege wegen, auch in 12°-Sommern - dieser See ist auch heute nicht wirklich warm. Aber die Erinnerungen. Angeln im Schlauchboot. Regenlesetage im Zelt, manchmal sommerlang. Andere Sommer voller Mastermind- und Schiffeversenken-Exzesse. Brombeeren. Holzsammeln. Über Baumwurzeln stolpern. Plumpsklos riechen eklig. Die Wespen waren damals schon anstrengend. Und Brötchen holte man noch in Synthetikbeuteln. Rahmbutter bestand nach dem Schmelzen aus einer gelben und einer weißen Schicht. Die Zelturlaube waren immer zu kurz. So war das.




Wäre es schon etwas später am Tag, ginge ich vielleicht genau auf diesen unseren Zeltplatz. So aber hält mich das Übermorgen-in-Berlin-sein-müssen vom Innehalten ab. Ein paar Kilometer noch.
Wesenberg gibt sich ausgestorben, irgendwie noch unheimlicher als all die anderen leeren Orte. Am Ortsrand bietet es mir einen sauren Milchkaffee inklusive unfreundlicher Bedienung - na, da stehen wir doch drüber. Heute überwiegt ohnehin das innere Gefühl zu fliegen.
Ich wähle mir den telefonfreundlichsten Campingplatz aus. Dass ich aus den Ansagen: "Noch 9 km von dort, wo Sie sind" und "Der Kiosk hat bestimmt noch ne halbe Stunde auf" Schlüsse ziehen sollte, dazu brauche ich heute ne Weile. Das innere Fliegen umgehend in äußeres Rasen umsetzen: als Preis steht ein Abendessen und ein Bier.
Natürlich schaffe ich es nicht. Die Kioskfrau aber ist unglaublich lieb, schließt wieder auf, kocht mir ne Bockwurst, lässt mich in Ruhe Sachen aus dem Regal suchen und erzählt nebenher, dass sie noch nie im Leben weg war von hier. Noch. Nie. Upps. Manchmal habe ich so gar keine Vorstellung vom Leben der anderen.
Jedenfalls: Oft war mein Abendessen gesünder, aber selten besser als heute.




Mein Zelt schlage ich auf der Wasserwandererwiese auf, dort ist es immer ruhig. Auch lauter so Menschen, die in der Stille unterwegs sind. Den Rest des Abends schaue ich auf den See.




Es ist so still, dass man das Plätschern des Kanus mitten auf dem See hört.




Hach.



2 Kommentare:

  1. Ihre Reiseberichte sind wunderbar.
    Vielleicht fahre ich mal die eine oder andere Radtour nach.

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  2. Vielen Dank fürs innere Mitkommen auf die Tour!

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