Dienstag, 18. August 2015

Tag 11: Sorge - Duderstadt


Für heute ist mir die Neugier abhanden gekommen - mit diesem Gedanken erwache ich. Ich möchte einfach nicht mehr wissen, wie es hinter der nächsten Ecke aussieht. Ich möchte nicht wissen, wie es in Hohegeiß, in Walkenried und in Duderstadt aussieht. Eine Motivationskrise. Liegt es am Nieselregen vor dem Fenster, oder weil ich gern in diesem Haus, in diesem Wald bleiben würde, oder weil von jetzt ab kaum noch ein Ort kommt, der mir vertraut ist?

Und doch stehe ich natürlich auf, frühstücke, packe und belade das Fahrrad. In diesem Moment - spätestens - passiert immer das Erstaunliche: Es zieht mich nur noch auf den Sattel. So als könnte ich jetzt nirgends anders sein.

Ich fahre also los ... und erinnere mich, wie wir 1984 zur Klassenfahrt in Thüringen waren. Unser Lehrer wollte mit uns wandern, und wir - pubertierend - wollten natürlich nicht. Schoben den Regen vor. Er so: ¨Es regnet nicht, wir sind nur in einer Wolke.¨
Das fällt mir heute wieder ein. Vermutlich bin auch ich hier in einer Wolke, so fein wie das Feucht sprüht. Und der Wald ist in einer Wolke, und die Wiese, und alles. Eine gespenstische Stimmung, ein Harz-London sozusagen. Wenigstens keine Hexe kommt des Wegs.

Dafür eine Grenzkaserne, eine ehemalige. 130 Soldaten, zuständig für ein Revier von 13 km Grenze, lese ich. --- Die Jungs, mit denen wir 1984 die Wolkenwanderung verweigerten, die mussten alle zur Armee. Später. Aber schon lange vor dem Ende der Schulzeit, schon als wir so 15-16 waren, begannen die Gespräche, begann die Musterung.
¨Bloß nicht an die Grenze¨, beteten sie alle. Keiner konnte sich vorstellen, dort zu stehen und dem Schießbefehl ausgeliefert zu sein. Wer dann später tatsächlich an die Grenze musste, weiß ich nicht.
Ich weiß aber, wie oft dies ein Thema bei uns war, in der Klasse, in der Jungen Gemeinde, unter Freunden. Alle hatten Angst. Welche Wege es gäbe: nicht schießen, in die Luft oder vor die Beine oder daneben schießen. Und wieviele Jahre Schwedt es dafür gab - jeder hatte schon irgendwas gehört. Wie gesagt, 15-16 waren wir, als uns dies zum Thema wurde, so allmählich.

30 Jahre später stehe ich vor dieser Kaserne in meinem Erinnerungsfluten.
Wie wir Mädchen ebenfalls systematisch zu Gesprächen geholt wurden. Auf welche Weise wir unseren Freund überzeugen könnten, damit er drei Jahre zur Armee geht. (Anderthalb waren Pflicht, drei freiwillig.)
¨Und wenn ich ihn davon gar nicht überzeugen will?¨ - Diese Frage kostete an anderen Schulen den Abiturplatz. An meiner, das haben wir damals wohl gar nicht genug zu schätzen gewusst, waren etliche Lehrer, die uns schützten, die sich vor uns stellten, die für uns bürgten, auch wenn wir solche Antworten gaben. Wir haben unseren Lehrern dafür wohl nie gedankt. In den ersten Jahren nach der Wende sahen wir uns nicht auf Schultreffen, später hat es sich nicht ergeben, und heute sind viele von ihnen tot. Ein Versäumnis, das ich sehr bedaure. Wie wichtig es war, geschützt zu werden, in diesem Land.

Ich fahre irgendwann weiter, immer bergauf, und die Erinnerungen reißen nicht ab. Wehrlager, regelmäßig ab der 9. Klasse. Wir Mädchen meist in der Schule, die Jungs mussten in der 11. nach Prora, in eines der KdF-Gebäude.
Wir dann fuhren erst im Studium ins Lager, im dritten Semester. Nach Eckartsberga, fünf Wochen lang.
Kriechen im Matsch, Nachtmärsche mit Gepäck und Gasmaske, Polieren und Schwarzcremen der Stiefelsohlen, Zimmerappell nachts um 11, weil die Gasmasken nicht ordentlich geputzt waren (¨Genossin, da wächst schon der Pilz!¨). Wie wir die Atomanzügenorm nie schafften und deswegen heimlich die Knopflöcher größer feilten, damit wir in der Normzeit bleiben und nicht immer den Ausgang verweigert bekamen. Wie sie uns ernsthaft erzählten, nach einem Atombombenabwurf solle man sich zum Schutz hinter eine Bordsteinkante legen. Wie überhaupt diese Politausbildung nicht und immer weniger zum Aushalten war - selbst für diejenigen von uns, die eigentlich in dem Land ihre politische Heimat gefunden hatten.
Wie wir während des langersehnten Ausgangs am Samstag einfach über die Felder liefen - stromernd so wie ich jetzt - Hauptsache in einen anderen Ort, in ein Omacafé, für ein paar Stunden unter normalen Menschen sein, wie wir dann aber trampend nicht schnell genug zurück waren und wegen der Verspätung gleich den nächsten Ausgang gesperrt bekamen. Wie ich heilfroh war, eines Morgens mit herausgefallener Zahnfüllung aufzuwachen, so dass ich statt Frühsport gleich zum Arzt und dann ins Dorf zum Zahnarzt durfte (auch Bohren ohne Spritze war besser als all das). Wie wir - ein bisschen und ganz naiv natürlich - die Kommilitonin beneideten, die mitten im Lager feststellte, dass sie schwanger war und deswegen abreisen durfte. Wie wir alle uns in unsere Bücher vergruben, wann immer Zeit war - die Buddenbrooks, der Zauberberg, die russischen Klassiker, an die erinnere ich mich aus unserem Schlafsaal - um nicht verrückt zu werden.

Es flutet mich. Bis ich plötzlich oben bin. Hohegeiß. Mit dem Verlassen des Waldes lässt mich das heftige Andrängen der Vergangenheit los. Plötzlich stehe ich wieder einfach nur im Regen, ich auf meiner Radreise. Gut so.
Die Wolke wolkt inzwischen sehr. Ich fahre durch Hohegeiß ohne anzuhalten, will runter ins Tal, in der Hoffnung, dass Wolken nicht so tief reichen.
360 Höhenmeter Abfahrt auf der Straße - na, in umgekehrter Richtung möchte ich die Strecke ja nicht nehmen. Für mich heute ist es genau richtig. Der WInd bläst meinen Kopf frei. Ein kleines Bobfahrergen erwacht in mir.

Stoppen kann mich erst Walkenried. Ein Kloster sei hier, das sich lohne, hatte man mir oben gesagt. Ich fühle mich von der Trotzigkeit der riesigen Mauern eher erdrückt, zudem lärmen verschiedene bauarbeitende Menschen in einer Vielzahl an Frequenzen herum, der Klosterhof mit dem Untertitel ¨Japanisches Restaurant¨ lockt mich nicht - sicherlich aber bin ich im Moment nur überhaupt nicht in der Stimmung, mich auf ein Kloster einzulassen. Trinke einen Milchkaffee, ein Stück Kuchen dazu, und gleich wieder hinaus in den Regen.

Dieser hat sich mittlerweile von einem radlerfreundlichen Nieseln zu einem respektablen Dauerschütten entwickelt. Mit Ignorieren komme ich nicht mehr weiter, es hilft nur die Regenmontur, Schritt für Schritt. Da ich jedes Teil immer ein paar Minuten zu spät anziehe, bin ich darunter immer schon nass.
Macht aber nichts, denn beim Bergauffahren werde ich dies sowieso. Ja, diese Kombination aus Regenzeugs und Bergfahren ist schwierig. Hinaufzu so schwitzen, dass ich durch die beschlagene Brille die Welt nicht mehr erkenne. Hinunterzu erbärmlich frieren. (Erstmals auf dieser Reise friere ich, tatsächlich.)

An Fotografieren ist kaum noch zu denken, weil mir beim Öffnen der Fototasche alles - Handy, Geld, Kamera - nass wird. Also freue ich mich bilderlos, lasse mir das Schauen nicht nehmen. Und dieses ist so wunderbar. Ich trage reiche Bildschätze in meinem Kopf. Der Hintergrund stets nebelverhangen, das Grün satt, im Vordergrund Blumenwiesen, Felder, regenschwere Zweige, all das. Im Regen ist alles so still. Selbst die Autos klingen gedämpft. Ich höre den Regen, wie er auf mich tropft, das Wasser, wie es unter den Reifen pfeift, und mich, wie ich ... plötzlich singe. Ja, da staune ich selbst. Es passiert einfach.

Was das Übernachten angeht, mache ich mir lange keine Gedanken. So lange wie selten. Ich werde eben mutiger und lasse das Planen los. Als ich dann kurz vor Duderstadt doch mal im Wanderführer blättere, steht da ein Jugendgästehaus. Ich rufe an, eigentlich schließen sie gleich, suchen aber - unglaublich freundlich - nach einem Weg, mich zu meiner Ankunftszeit noch hineinzulassen, indem jemand nach Feierabend vorbeigefahren kommt. Mensch, ich bin begeistert. Und von dem Zimmer erst ...
Zimmer? Ich habe einen ganzen Pavillon für mich. (¨Ich hab Sie allein gelegt, damit Sie Ihre Ruhe haben.¨) Und nicht nur Ruhe: Vor meinem bodentiefen Fenster öffnet sich der Blick auf eine Wiese und Bäume, es ist stiller und ländlicher als auf so manchem Zeltplatz ...
Wenn der Gästehausmensch wüsste, wie ich mich beschenkt fühle durch genau dieses Zimmer .... das muss ich ihm morgen unbedingt sagen.

Und dann: all mein Geraffel zum Trocknen ausbreiten, das Fahrrad hätscheln (das leistet schließlich Großartiges, treu und immer dem Regen ausgesetzt), in die Stadt spazieren, durch die alten Fachwerkgassen, den Regen kaum mehr wahrnehmen, einen Imbiss finden, mit den Kindern telefonieren (die morgen nach Italien fahren) und durch die regennasse Nacht zurücklaufen.

Morgen früh wird mich das Grün wecken. Und ich werde - Regen hin oder her - weiterfahren. Alle Wetterdienste sagen, dass es im Süden besser sei, während hier noch weitere 24 Stunden Dauerregen angesagt sind. Ich hoffe, sie haben Recht, so dass ich morgen Abend nicht so eingeregnet ankommen werde wie heute. Wo auch immer das sein wird.

4 Kommentare:

  1. Einfach klasse. Diese gegenwärtige Reise durch die Vergangenheit.

    AntwortenLöschen
  2. danke für die beschreibungen.
    speziell auch jene in deine eigene vergangenheit - spannend!
    viel glück heute - mit wetter und strecke und menschen und unterkunft...
    waldwanderer

    AntwortenLöschen
  3. Ich möchte mich auch bedanken für die Informationen, die Du heute an uns weitergibst. Unsere Vergangenheit .. ich meine jetzt die der Deutschen .. könnte unterschiedlicher nicht sein ; und es ist wichtig, viel von- und über-einander zu erfahren. Was ich heute bei Dir gelesen habe über Deine Schulzeit und Jugendjahre, war mir noch nicht bekannt und nun verstehe ich "euch" wieder ein wenig besser.

    Viel Gutes weiterhin auf Deinen Wegen, nicht nur per Rad ... Alles Liebe, Freya

    AntwortenLöschen
  4. Mal eine verspätete ¨Sammelantwort¨: Vielen vielen Dank, dass ihr hier lest, dass ihr die Dinge mitnehmt, die ich zu teilen versuche. Das ist mir sehr wertvoll!

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.