Samstag, 15. August 2015

Tag 8: Brome - Schöningen


Ob dieser Tag mit mir meine Kraftreserven testen wollte? Oder mich belehren, dass ich mir mit zu rigider Planung selbst im Weg stehe? Eine Kombination von beidem, irgendwie.
Nämlich: weil Gewitter und Regen vorausgesagt waren (und ich meiner WetterApp inzwischen blind vertraue, so Recht wie sie immer hat), hatte ich mir morgens ein Jugendherbergszimmer gebucht. Eines, das eine dritte 90er-Etappe implizierte. Einerseits unbehaglich, weil ich die Hügel und Berge nicht kenne, aber viel Auswahl hatte ich nicht. Andererseits traute ich es mir zu.

Dann aber fahre ich - für dieses Ziel und für die angesagten 35 Grad - viel zu spät los. Schon hier kollidiert es: Planung vs. das Leben laufen lassen. Sich morgens lange Zeit nehmen, mit dem Vermieter plaudern, ruhig aufladen - und schon ist es kurz vor 10.

Die ersten Stunden vergehen mühsam. Mental, weil der Weg gleich hinter Brome durch ein geteiltes Dorf führt. Eines, das bis heute nicht wieder zusammengefunden hat, so scheint es mir unwissender Betrachterin. In der Nähe sind Grenzanlagen aufgebaut, in all ihren Stadien von den 50er Jahren bis zum Schluss. Die allmähliche Zementierung des Getrennten. - Nein, ich stumpfe nicht ab. Jede einzelne Erinnerungsstätte geht unter die Haut. Aber es ist andererseits auch schwierig, verhindert Leichtigkeit, sich dieses Thema als Urlaubsziel gewählt zu haben. Dabei nehme ich noch längst nicht alle Gedenktafeln und Museen etc. mit. Heute morgen komme ich nur schwer aus meiner dunklen Stimmung heraus. Verstärkt wird diese durch die nächsten Ortschaften. Grau und perspektivlos. Man lächelt nicht, man nimmt keinen Augenkontakt auf, man möchte für sich sein. Das irritiert mich zunächst, dann macht es mir Angst. So viel Ungelöstes schwingt mit. Das ist nicht einfach nur die Hoffnungslosigkeit eines verlassenen, aussterbenden Dorfes. Hier sitzt der Schmerz noch sehr viel mehr an der Oberfläche. Nicht nur in Form des Putzes der Häuser, die ich passiere.

Wie ist das, fragten wir uns gestern anderenorts, wie viel Lebensaktivität braucht der Mensch, braucht eine Ortschaft, um sich als lebendig anzufühlen. Lange habe ich heute darüber nachgedacht.
Menschen aller Generationen braucht es. Und da es die Großfamilie unter einem Dach kaum mehr gibt, leben diese sicherlich in verschiedenen Häusern und müssen sich begegnen können. Dazu braucht es Bänke. An einem Spielplatz, unter der Dorflinde, in einem Gasthaus, aber mindestens doch vor einer Bäckerei. Einen Laden braucht es, damit man ohne Auto leben kann und die Kinder einkaufen schicken kann. Und damit es einen Ort der Dorfkommunikation gibt.
Außerhalt des Dorfes, in erreichbarer Nähe, braucht es Erwerbsarbeitsmöglichkeiten. Vielleicht einen Kindergarten, eine Schule, mit anderen Dörfern geteilt.
So wenig. So viel. Viele der Dörfer hier an der Strecke haben nichts von all dem.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie man hier lebt. Vor allem ohne Bänke des Verweilens und Begegnens. Ich kann aber auch nicht in fremde Leben schlüpfen und sie von innen her fühlen. Also liege ich vielleicht nicht richtig, wenn ich über diese entleerten Straßenanblicke bedrückt bin? Hoffentlich nicht, möchte ich rufen.

Und dann ist da das Erstaunliche, was auch andere Radler erfahren haben, ich habe heute mit mehreren gesprochen, auch intensiver: Die Menschen hier grüßen uns alle sehr offen. Oft von sich aus, wenn wir vorbeifahren. Sie helfen, erklären, zeigen sich geöffnet und zugewendet, kommen auf einen zu. Vielleicht stecken doch mehr Lebensmöglichkeiten in diesen scheinbar leergelebten Dörfern?
(Bis auf heute morgen eben.)

Sehr nachdenklich fahre ich durch meine Morgenstunden. Ein besänftigendes Naturschutzgebiet spendet dafür Stille und Schatten, bevor ich über weite Strecken des Tages auf die Straße muss. Heiß ist es dort, sehr heiß. Flimmernder Asphalt lässt mich mehr und mehr ermatten. Alles fühlt sich schlapp an. Zur Mittagszeit bin ich kaum 30 km gefahren und erst in Oebisfelde. 60 km fehlen noch, mir ist ganz schwindelig bei diesem Gedanken. Oder von der Hitze, es wird immer unerträglicher. Dazu ist der Asphalt meist schlecht, der Wind schiebt nicht so konstant wie gestern, und die Ausschilderung des Aller-Radweges ist für mein heute hitzemüdes Hirn viel zu dürftig. Zeit zum Suchen verbrauche ich also auch noch. Immer häufiger halte ich einfach im Schatten an: trinken, kurz der Glut entfliehen. Mein Kopf beginnt zu schmerzen. Frage an mich selbst: Ob und woran ich einen aufziehenden Sonnenstich erkennen würde. Ob das also nicht leichtsinnig ist, hier weiterzufahren, wohlwissend, dass ich der Antihitzetyp bin.

Jedenfalls: Es wird Fünf, bis ich weitere 30 km geschafft habe.Musste mich über erste vorgebirgsartige Hügeleien schrauben, nicht ohne Begeisterung für den Fernblick auf diese sanften Wellen und für die vielen Anzeichen des Südlicheren: immer weniger Backstein, immer dunklere Steine bis hin zu ersten schwarzen Schindeln,
Der Herbergsvater antwortet endlich auf meine Mail, dass er das Zimmer jetzt fest gebucht habe und dass es zu meiner Ankunftszeit kein Essen mehr gibt.
Ich falle also in eine Straßenkneipe ein, voll von Radlern, die alle hier schon übernachten, und gönne mir die Zeit für eine warme Mahlzeit. Und für ein bisschen innehalten. Mich freuen am Dialekt, den ich so liebe. Und an den Lebens-Ortsnamen: Bartensleben, Alleringersleben, Eilsleben, Hötensleben - jedes Ortsschild setzt andere Assoziationen frei.

Die Kinderspaghetti Bolognese werden sich beim Weiterfahren als Zaubernudeln erweisen. Sie setzen Kräfte frei für das, was noch kommt.
Immer noch 30 km zeigt das Navi, ich hatte auf ein bisschen weniger gehofft. Und von nun an geht es bergauf und bergab, permanent. Zudem rückt Gewittergrollen näher. Das war doch erst für nachts angesagt? Mag sein, aber definitiv werde ich gerade nass. In Marienborn sitze ich komplett durchgenässt in einer Bushaltestelle (tut eigentlich gut, wenn ich nicht weitermüsste), es stürmt und tobt, und ich rufe den Herbergsvater an: Späteste Ankunftszeit?
¨Machen wir halb neun¨, reagiert der unwirsch. ¨Wie ¨machen¨? Ich mach so schnell ich kann. Aber ¨machen¨ kann ich das nicht.¨ Er ist sauer, erklärt, dass er um viertel vor zehn den Schlüssel rumdrehen wird, da sei dann eben zu. Worauf ich mir überlege, ob sich im Notfalle auch auf der Bank einer Bushaltestelle schlafen ließe.
Jedenfalls - ich weiß nicht warum - zementiert sich in mir die halb-neun-Drohung, zusätzlich zu den Gewittertürmen in Nähe und Ferne. Das Navi zeigt erschreckende Entfernungen und Höhenmeter, ich schaue lieber nicht genau hin, sondern fliege los.

Jeden steilen Berg im Stehen nehmen, so lange die Kräfte reichen, bei flacheren Anstiegen immer zwei Gänge mehr als Komfort einlegen, Trinken während des Fahrens, Bremsen (die Tiere, die verschwitzte langsam bergauf Fahrende attackieren, lästig wie die Lapplandmücke) mit einer Hand verscheuchen (zwei Hände am Lenker sind überbewertet), durch die Orte durchbrettern, Navi während des Rauschens checken. So könnte ich von diesen fast zwei Stunden erzählen.
Oder auch so: Auf und ab. Das Auf bringt mich auf Anhöhen mit Blick in die weite Ferne. Überall dort zucken Blitze. Wolken und Sonne liefern ein unheimliches Schauspiel. Ab und zu landen Tropfen auf meiner Haut. Zu wenige, um die Jacke anzuziehen, um sich unwohl zu fühlen. Eher hat es was von kindlichem Tanz im Sommerregen.
Ja, ich tanze innerlich. Dies wird auch durch die zeitliche Beengtheit nicht zerstört. Ich staune, was mein Körper leistet. Und ich staune, wie glücklich mich diese Landschaft in ihrem Wetterspiel macht. Sehr unwirkliche Stunden, sehr wohltuende Stunden.

Im Zielort Schöningen (halb neun, Ultimatum geschafft!) verschnaufe ich kurz, realisere, dass ich auf den vergangenen Kilometern nun alles ¨Touristische¨ ausgelassen habe: den großen Tagebau zu sehen, die kleinen Schlösschen zu betrachten, in den Ortschaften innezuhalten ...
Dann gebe ich die JuHe-Adresse ins Navi ein. Schock. 150 Höhenmeter auf 3 Kilometer. Fühlt sich nach Umfallen an. Da das aber keine Alternative ist, schraube ich mich hoch. Ich weiß nicht mehr wie. Durch die Kleingartenanlage schiebe ich. Die Straße ist machbar, ich kann es selbst kaum glauben. Und treffe vor dem Tor ein, als die ersten wirklich dicken fetten hagligen Tropfen fallen. Abladen, Nasswerden, von den Radlern in der Herberge bedauernd angesprochen werden, und vom Herbergsvater keinen Gruß, keine irgendwie freundliche Bemerkung zu bekommen, nur das nötige Prozedere - das ist schon speziell.

Der Rest des Abends: Brötchen aus den Packtaschen verschlingen (am liebsten hätte ich im Zimmer gekocht:)), Bier dazu, sitzen, telefonieren, duschen, schreiben. Vor allem aber sitzen.
Müde, seeehhhr müde. Die heutigen Höhenmeter hätten für die Harzdurchquerung gereicht.
Aber sehr befreit und befreiend fühlt sich der Tag an. Er hat Mein-schönstes-Ferienerlebnis-Potenzial. Um es unflapsig zu sagen: Ein wahrlich guter Tag.

4 Kommentare:

  1. Antworten
    1. Danke schön für das treue Mitlesen und die Komplimente!

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  2. ich schließe mich dem hauptschulblues kommentar an;-)
    ich fieberte förmlich mit: schafft sie die etappe? werden regen, blitze und hagel nicht zu sehr das fahren behindern? wird der unfreundliche herbergsbesitzer sie noch reinlassen?
    hoffentlich heute keine 90km, sondern was schön erholsames!!!
    liebste grüße!
    waldwanderer

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    1. Im Nachhinein, beim Schreiben, war ich ja zum Glück schon angekommen. Aber erstmals auf der Reise habe ich wirklich nicht gewusst ... Sehr spannend zu erfahren, dass ich mich überhaupt nicht gesorgt habe. Zu keinem Zeitpunkt. - Das müsste man mal ins ¨echte¨ Leben übertragen können:)

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