Montag, 8. September 2014

Zwischendurch


Zwischen all dem Schulemachen, täglich abends, wenn das Tageslicht nicht mehr auf den Monitor blendet, blättere ich mich durch meine Urlaubsfotos. Erstmals seit der Rückkehr ist Zeit und Raum dafür, in dieser Woche, da die Kinder mit dem Papa im Urlaub sind und ich allein bin.
Ich blättere. Bild um Bild. Vor und zurück. Jeden Tag durchspielend in meinem Erinnern. Unglaublich, wie mir jeder einzelne Moment, jeder Anblick, jede Etappe - auch die, von denen ich keine Fotos habe - intensiv vor dem inneren Auge erscheint. Ich muss den gesamten Weg, den gesamten Wegesrand aufgesogen haben, mit allem, was er in sich trug.

Noch selten hat mich nach einer Reise das Rückschauen so wehmütig gemacht. Da ist ... hm ... fast schon: Trauer ... dass ich diese vergangenen Tage und Wege loslassen musste und muss. Lasse ich doch zugleich auch ihr Lebensgefühl los, je stärker hier wieder Alltag einzieht. Das schmerzt, und das Wissen um ein "nächstes Mal" vermag nicht zu trösten. Kein Gefühl von Feriensattheit, wie ich es oft hatte. Mein Ich will sich nicht ins Ferienende hineinbegeben. Was ist das?

Besonders treffen mich die Bilder meiner verschiedenen Vergangenheiten, die mir auf der Reise begegnet sind. Es war so leicht, verklärend sehnsüchtig durch diese Straßen zu streifen. --- Es ist so schwer, all das Unaufgelöste zu realisieren, das diese Zeiten in sich tragen. Immer noch. Dieses verknüpft sich gerade mit den vielen Knoten, die meine Gegenwart bestimmen. Unaufgelöstes im Innen, im Außen, und kein Wegleugnen, kein Verklären möglich. Urlaubsmitbringsel: meine dringenden Aufgaben im Spiegel vor mir zu sehen.

Und noch etwas sehe ich im Spiegel (dem ich im Moment am liebsten entfliehen würde): das Fahren, das Unterwegssein an sich, das gesamte Seinsgefühl, von dem ich ahne, dass genau so zu leben wäre, wollte man nicht am Ende seines Lebens voller Bedauern zurückblicken - das konfrontiert mich damit, dass ich hier zu Hause gerade schon wieder in ein alltägliches Funktionieren abgleite, in ein allgegenwärtiges Verlieren des Augenblicks.
Verpackt in Schule-ist-mein-Traumberuf, in Haushalt-und-Ordnungmachen-befriedigen-mich, in Die-Kinder-wollen-und-brauchen-das-so kommt dieses Verlieren besonders subtil, kaum zu durchschauend, kaum greifbar daher.
Natürlich sind diese Sätze alle in gewisser Weise wahr. Zweifellos. Aber über weite Strecken meiner (All)Tage verselbstständigen sie sich, lösen sich von mir, zwängen mich in ein Korsett, lassen mich nicht mehr allein atmen. Manchmal "machen" sie mein Leben, ohne dass ich noch beteiligt zu sein scheine. Irgendwie so.
Könnte es anders sein? Ist das nicht mein selbstgewählter Weg als Working-mum? Mit all den Notwendigkeiten, zwischen denen ein Reiselebensgefühl im Hier und Jetzt (klingt abgedroschen, trifft es aber) kaum möglich ist?

Das Radwandern lehrt vieles: dass zwischen den notwendigen Dingen - den richtigen Weg und Nahrung und einen Schlafort finden, Zeit und Kraft einteilen, Wetter im Auge behalten, sich den Gegebenheiten des Weges fügen - ein inneres Sein und Verweilen möglich ist, ja, dass das gesamte Sein nur aus Verweilen besteht, aus tretenden, schauenden, staunenden, atmenden Augenblicken. Dass eine Rast vor einer grauen, trostlosen Mauer in einem grauen, trostlosen Dorf nur durch meine Wortwahl grau und trostlos scheint - gelebt haben wir sie als rundum guten Moment. Dass ein Tag voller Kilometer und Eile nur durch die Uhr am Handgelenk eilig scheint - gelebt haben wir ihn als rundum guten Tag. Dass viele Stunden ohne warmes Essen nur durch die (deutsche?) Idee einer warmen Mittagsmahlzeit unbehaglich scheinen - gelebt haben wir rundum gute Stunden. Anstiege, Gegenwinde, Umwege, sich ziehende Strecken - alles rundum gute Momente. So war das auf der Radreise.

Und hier??? Wo finde ich hier inneres Sein und Verweilen zwischen all den Notwendigkeiten? Geht das? Geht das nicht? Bin ich zu schwach, zu unfähig, meine Alltagsschritte umzuwandeln in solche, die dem Rundum-Gut der Radreise auch nur entfernt nahe kommen? Oder ist das Illusion, weil das "echte" Leben eben doch keine Radreise ist? Was würde es bedeuten, durch die Alltage zu gleiten wie durch die Landschaften mit dem Fahrrad?
So viel zu arbeiten, wie ich es in den letzten Jahren getan habe, so beschäftigt zu sein auf allen Ebenen, entbindet ja bequemerweise auch davon, dieser Frage ehrlich ins Gesicht zu schauen: 
Unfähigkeit oder Unmöglichkeit?

So Fragen, aus Urlaubsbildern heraufsteigend. Und nicht nur. Auch aus der seit Dienstag auf meinem Schreibtisch liegenden Todesanzeige. Sie war ein paar Jahre älter als ich, eine Lehrerin meiner Kinder, hätte in zwei Wochen eine neue erste Klasse in ihre warmen Arme schließen sollen. Eine "Lehrerin mit Leib und Seele", schreibt ihre Schulleitung, "mitten aus dem Leben", schreibt ihre Familie. --- Wie leben wir dieses Leben? Wie lebe ich dieses Leben? --- Ob sie im Frieden ging? Ob da Bedauern blieb? Ob sie auf ein Rundum-Gut zurückschauen konnte? Oder ob da bis zum Schluss Suche nach einem "Reiselebensgefühl" blieb, wie auch immer sie das in ihrer Sprache genannt hat?
Zwischen Schuldingen und Fotoschauen gehe ich auf die Trauerfeier. Auch stellvertretend für meine Kinder, die noch im Urlaub sind. Tränen. Erschütterung. Umarmungen.

In dem Moment, wo hier plötzlich der Tod in meine gärenden Fragen hineinschwingt, das Wiedermalgewahrwerden, dass nicht ewig Zeit bleibt, wo nicht Kinder und Schulalltag mich ablenken, wo kein Ausredenmäntelchen zum Flüchten mehr bleibt --- fühle ich mich nackt. Konfrontiert mit mir selbst, ohne alle Tarnhüllen und Schutzhäute.

Ich ahne, wie verführerisch und einlullend der Gedanke ist, das ginge eben allen berufstätigen Müttern so. So sei das eben, alles "normal" also.
Ich ahne, dass es nur allzu bequem ist, das Schild "Unfähigkeit" mit dem Etikett "Unmöglichkeit" zu überkleben.
Ich ahne, dass, wenn ich mir das Schild schon sichtbar vor Augen führe, ich die "Unfähigkeit" dringend umbenennen müsste. In einen liebevolleren Begriff, der noch zu suchen wäre. Damit sich mein inneres Kind nicht gepeitscht fühlt.
Und aus diesen Ahnungen blitzt mich unverhüllt und ungeschützt mein Ich als Du im Spiegel an.

"Zwischendurch", schrieb ich oben hin, bevor der Text aus mir wuchs.
In manchem Zwischendurch wohnt wohl das Eigentliche.

3 Kommentare:

  1. Ich habe dich gelesen, liebe Uta. Vieles ist mir so vertraut. Es muss den Weg im Alltag geben. Ich fühle mich dir in dieser Suche verbunden.
    Nun eile ich zurück an meinen Vorbereitungstisch. Eine Gemeinsamkeit mehr seit ein paar Wochen.
    Herzliche Grüsse in deine (letzte?) Ferienwoche.
    Gabriela

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  2. Oh, ich kenne dieses Zwischendurch, das doch das eigentlich Leben darstellt, so gut. Und wie gut es tut, daraus auszubrechen - und wie sehr man am Ende dieser Tage alles in Frage stellt. Ich habe für mich auch noch nicht das Modell gefunden, das mich einen Alltag leben lässt, der so erfüllt wäre, dass ich am Ende des Tages sagen könnte, es war ein guter, erfüllter, runder Tag. Zu häufig das Hamsterrad, zu selten das Innehalten ... Liebe Grüße vom Vorbereitungstisch :-)

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  3. Als ich vorhin meinen Blogeintrag schrieb, dachte ich: "Schreibe ich etwas über dieses "Eigentliche"? Ich hab's gelassen - zu viel und zu tief erschien es mir (und so recht wollte ich mich wohl auch nicht damit beschäftigen)...Und dann hier Deine Worte. So nah, ja.
    Ganz liebe Grüße ins Zwischendurch,
    katobia.

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