Dienstag, 27. April 2010

Bestanden

Gestern war U8, alles Mögliche wird überprüft. Während ich von unserem Kinderarzt sehr viel halte, gilt dies nicht für alle seiner Sprechstundenhilfen. Gestern, das war so eine …

Die Tochter hatte das wohl im Gespür. Startete mit Schweigen. Ließ sich dann von ihr durch Androhung von Belohnungsgummibärchenentzug (ich schüttele nur den Kopf) zur Kooperation bewegen. Zeigte, dass sie wie ein Adler sieht – „und auch wie einer hört“, kommentierte der Arzt später die Ergebnisse. Bis dahin wusste ich nicht, dass Adler schlecht hören ;-). Da das Hören aber letztes Jahr an der Uniklinik ausgiebigst getestet wurde, als sie noch kein Wort sprach, wissen wir, dass damals alles bestens war, die gestrigen Ergebnisse also vermutlich nur durch fehlerhafte Gerätebedienung (oder doch durch stillen Boykott ;-)) zustande kamen.

Nun, richtig spannend wurde es, als die altersgemäße Sprachentwicklung überprüft werden sollte. Ich hatte keine Ahnung, welches die Kriterien sind, erschloss sie mir erst im Laufe des Gesprächs, das meine Tochter mehr und mehr zu gustieren schien. Und ich auch. Aber hört selbst ….
(Zu schade, dass ich kein Diktiergerät mitlaufen ließ: ich vermute, ich habe die Hälfte der Dialoge noch vergessen. Jetzt beim Aufschreiben kommt es mir ganz und gar unglaublich vor - aber ich schwöre: es WAR so.)


Teil 1: Kann das Kind Farben benennen?
Sie zeigt ein knalleblaues Blatt – Tochter sagt „blau“.
Sie zeigt ein knallerotes Brillenetui – Tochter sagt „rot“.
Sie zeigt – gegen’s Licht – zwei Miniteilchen, dunkel, klein, krumpelig, kaum als Büroklammern zu erkennen – Tochter legt los: „Also da sind so Blätter, das macht man da so dran. Da immer oben an so Blätter, so mehrere Blätter.“ – Meine Güte, denke ich, was für komplizierter Wortschatz, der hier gecheckt wird. Die Sprechstundenhilfe macht nur „hm“, ich frage mich ernsthaft, ob ich in der Wortschatzarbeit mit meinem Kind arg zurück bin, doch schon geht es weiter …
Sie legt die Teilchen weg und zeigt ein Blanko-Rezept – Tochter kommt in Form: „Ein Blatt.“ – „Hm.“ – „Ein kleines Blatt. Das heißt Zettel.“ – „Hm.“ – Während ich jetzt eigentlich denke, dass man das besser nicht sagen könne, scheint es nicht zu befriedigen.
Die Sprechstundenhilfe zeigt auf den Hintergrund des Rezepts – aha – Tochter kapiert endlich: „grün“.
Bingo. So einfach hätten wir das haben können. Ach ja, die Büroklammern waren natürlich grün :)
(„Gelb“ hat sie vergessen zu überprüfen. Hoffentlich bemerkt sie’s nicht noch. Dann bekommen wir vermutlich einen Nachtermin ;-))


Teil 2: Kann das Kind Gegensätze benennen?
(Ich vermute, hier sollte „warm-kalt“ beherrscht werden.)
Wie ist es im Sommer?“ – „Da kann ich kurze Hosen anziehen, und Kleider …“ – „Ja, und wie ist es da?“ – „Da kann ich immer draußen spielen, im Rock, und wir gehen ins Schwimmbad.“ – „Ja, warum kannst Du denn kurze Hosen anziehen?“ – „Hm. Ich mag kurze Hosen. Ich hab eine blaue und eine rote.“ – (leicht ungeduldig) „Wie ist denn das Wetter im Sommer?“ – „Da scheint die Sonne, und man muss in den Schatten gehen, sonst schwitzt man.“ – „Ja, warum gehst Du denn in den Schatten?“ – „Weiß nicht. Mama sagt das. Und man muss Sonnencreme nehmen.
Zu dem Zeitpunkt grinse ich schon sehr. Wie die sich abmüht, und Töchterchen sich standhaft weigert, das Wortpaar „warm-kalt“ zu verwenden :)
Eigensinn aber auch.


Teil 3: Kann das Kind elementare Tätigkeiten benennen, etwa „essen“ oder „schlafen“?
Was machst Du, wenn Du hungrig bist?“ – „Ich geh an den Schrank und nehm mir was raus. (verstohlener Seitenblick zu mir) Nur manchmal nehm ich was raus. (noch ein Blick zu mir) Und ich mach den Schrank immer wieder zu.“ – „Was nimmst Du denn da raus?“ – (wieder Blick zu mir) „Rosinen, Nüsse, Zwieback …“ – „Aha, und was machst Du dann damit?“ – „Das halte ich ganz fest. In der Hand. Die muss ich fest zumachen. Damit das nicht auf den Boden fällt. Denn dann müssen wir das wieder zusammensammeln, das wollen wir doch nicht …“ – (Ich kann mich kaum mehr halten, dass ich nicht lospruste.) – „Ja, gut. Aber das, was Du da in der Hand hältst, was machst Du dann damit?“ – „Das stecke ich dann in den Mund. Und ich pass immer auf, dass nichts runterfällt.“
Hier gibt sie auf – das Wort „essen“ will und will nicht fallen.
Einer noch:
Und was machst Du, wenn Du müde bist?“ – „Dann gehe ich ins Bett." – „Und dann?" – „Dann liest die Mama was vor." – „Und dann?" – „Dann klettere ich wieder raus, und dann ruft mich die Mama." – „Und dann?" – „Dann kuscheln wir. Manchmal stehe ich wieder auf, und dann schimpft die Mama." – (letzter Versuch) „Und dann?" – „Aber die Augen mache ich nicht zu …
Die Sprechstundenhilfe wird ungeduldig: „Ja, was macht man denn, wenn man müde ist?“ – „Weiß ich nicht.“ (koketter Blick zu mir) – Und nun ziemlich ungehalten: „Was macht denn die Mama, wenn sie müde ist?“ – „Weiß ich nicht. – Ähm. – Ach so, die geht hoch in ihr Arbeitszimmer …
In dem Moment kann ich nicht mehr an mich halten. Und die Sprechstundenhilfe lässt ab von uns.

Die Prüfung ist endlich vorbei.
Hätte man der Tochter den Auftrag gegeben, die Wörter warm-kalt-essen-schlafen um jeden Preis zu vermeiden – sie hätte es nicht besser machen können!
Danke für das Vergnügen, Dir zuhören zu dürfen, Tochter!

Natürlich „bestehen“ wir die U8. Aber ich werde nachdenklich. Es wird nicht die letzte Situation in ihrem Leben gewesen sein, in der gewisse Standardantworten von ihr erwartet werden und sie genau diese nicht erbringt.
Hoffentlich bleibt sie dann immer so geduldig mit ihren „Prüfern“ wie gestern.
Vor allem aber: Hoffentlich lassen ihre „Prüfer“ sie dann auch immer „bestehen“, wie gestern. Wenn sie sich anders gibt als erwartet, als vorgegeben, als genormt, als geplant. Wenn sie ganz anderes tut als das, was man jetzt von ihr möchte.
(Nein, ich denke nicht primär an künftige Arztbesuche. Ich denke an die vielen Jahre Schulzeit, die vor uns liegen. An Kinder, die „durchfallen“, weil sie keine Standardantwort auf Standardfragen, kein Standardverhalten, kein Standardwesen zeigen. Weil jemand Blindes auf sie schaut. Und ich frage mich, wie oft ich wohl schon blind gewesen sein mag - gegenüber Schülern, gegenüber meinen eigenen Kindern.)
Danke für diese Lektion, Tochterkind!

5 Kommentare:

  1. das ist phänomenal- und würde mich ebenso erstaunen und leicht besorgt sein lassen. vielleicht ist es genau andersherum und man sollte sich kein bisschen sorgen: eine starke, individuelle kleine persönlichkeit, der so leicht keiner ein x für ein u vormachen kann. ganz, ganz klasse!!!

    AntwortenLöschen
  2. wunderbar!
    ich hab feuchte augen vor lachen!
    diese u's sind aber auch selten beschränkt. sicher sinnvoll und notwendig, aber wenn die helferinnen sich so wenig phantasie haben...

    ich glaub auch nicht, daß du dir sorgen machen mußt mit so einem kreativen, wortgewandten kind. höchstens, daß mal ne lehrerin erfreut (oder beleidigt) bei dir anruft, weil sie vom kind niederargumentiert wurde. (die lehrerin meiner großen jedenfalls freut sich immer staunend, wenn die kinder ihr 'so' daherkommen.)

    AntwortenLöschen
  3. Zunächst einmal musste ich auch ziemlich lachen, als ich Ihren Bericht gelesen habe, aber es stimmt: wir pressen Kinder schon ziemlich früh in Schemata, fordern richtige und falsche Antworten, und manchmal sind die Konsequenzen so fatal, wie sie für kleine Wesen eigentlich gar nicht sein dürften ... insofern: vielen Dank für diesen Gedankenanstoß!

    AntwortenLöschen
  4. Dieses Kind hat so einen ungeheuren Wortschatz in den Monaten zuvor angehäuft, dass der jetzt endlich ans Licht muss - sonst "platzt" der "Bauch" oder wo sonst unausgesprochene Wörter ihren Ort haben. - Da kann sie sich nicht mit so simplen Wörtern wie essen, schlafen, grün usw. usf. begnügen, da muss einfach mehr gesagt werden.
    Recht hat sie, und wer das nicht sieht oder schätzen kann, der ...
    GLG von Martha

    AntwortenLöschen
  5. :-) ja, genau so sollte es sein. Deine Tochter ist wundervoll!!

    Liebe Grüße
    Rina

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.