Dienstag, 20. April 2010

Ein Moment nur

Da ist immer diese Montagsstunde – der Sohn hat Klavierunterricht.
Ich kann sie im Aufenthaltsraum verbringen. Mit anderen Müttern in zugig-düsterer Atmosphäre wartend, in ungewollten Smalltalk verwickelt, von gestressten Kleinkindmüttern angesteckt, auf die Uhr schauend.
Ich kann schnell etwas erledigen – Einkauf, Post, Baumarkt – das Zeitfenster reicht für manch Nützliches.

Oder ich kann die Stunde zu meiner Stunde machen, zu meiner Fluss-Stunde.
Mit oder ohne Tochter. Heute mit ihr.
Mit oder ohne Buch, mit oder ohne etwas zu schreiben, mit oder ohne Kamera. Heute ohne alles.
Nur ich, und sie, und der Fluss.

Himmel, Wasser, Berge, Blütenbäume.
Sonne, Wind, und der kühle Stein, auf dem ich sitze.
Einige Enten, zuweilen Spaziergänger, andere Kinder, andere Mütter.
Wasser plätschert, Kirchenglocken läuten, ein Zug fährt, und viele Autos (manchmal weniger, wenn auf der Brücke Rot ist).
Buntes Geräuschgewirr, von allem etwas.
Buntes Lebensgefühl, von allem etwas.

Ich sehe meine Tochter:
Wie ihre Haare vom Wind durcheinandergeworfen, von ihren Händen immer wieder aus Stirn und Augen gestrichen werden, wie sie Kreuze und verworrene Muster bilden – ein gänzlich unvorhersehbares Weben.
Wie ihre Augen mal blinzeln, mal sich als Schlitze der Sonne zuwenden, mal mit mir sprechen, mal weit aufgerissen und staunend das alles betrachten – ein Spiegel des Lebens um uns.
Wie sie fasziniert die Enten betrachtet und mir in ihrer Sprache mitteilt, was sie an ihnen sieht, was sie sich fragt, was sie verwundert.
Wie mein Kind die Fluss-Welt mit seinem Wesen erfüllt – wie es die Enten füttert, wie es sich durch einen Sprung vom Steinhügel in ein Fliege-Gefühl versetzt, wie es mich durch eine warme Zwischendurchumarmung in sein Welt-Erleben miteinbezieht …

Wie mein Kind von all dem tief erfüllt ist.
Und ich mit ihm.
Und um uns herum Himmel, Sonne, Wind, Wasser, Stein …
Es ist vollkommen.
Mehr brauche ich nicht.
Hier, genau so, würde ich meinen letzten Tag verbringen wollen.
Wenn ich denn die Wahl hätte …

In meinem Rücken wird ein Fenster geöffnet: ein junger Posaunist übt sich an Dreiklängen durch alle Tonarten, legato und staccato. Seine Melodie fließt oder hüpft hinauf und hinunter, die Töne mal stimmig, mal nur nah am Gemeinten. Hier eine kleine Verzögerung, da ein Rhythmussprung, allezeit Unregelmäßigkeit … ich höre fasziniert zu. Dieser Melodie, dieser so unvollkommenen, dieser so vollkommenen …

Wie lange üben wir an unserer eigenen Lebensmelodie? Bis wir sie erlauscht haben, bis wir sie spielen, wie sie gemeint ist. --- Oder nein: bis zum Gemeinten gelangen wir noch nicht, können, dürfen, wollen wir vielleicht nicht gelangen? Oder erst im Schlussakkord? --- Soll ich nicht eher erkennen, dass sie so, wie sie ertönt, zu einem jeden Zeitpunkt, vollkommen ist? Und unvollkommen – beides in Einem?

Üben, ich werde weiter üben. Mich erfreuen an meiner eigenen kleinen Melodie, wie sie auch sei. Ihr lauschen – ihr, wie sie ist, und ihr, wie sie gemeint ist. Das Zusammenspiel von ich bin und ich werde begreifen … mit meinen Fingern auf der Seelentastatur.
Und wenn meine kleine Lebensmelodie dann noch eine solche Schlussharmonie vorgesehen hätte wie diese Stunde am Fluss … einst … ach …

Ein kleiner Moment nur war das gestern.
Ein glücklicher Moment.
Ein einziges tiefes Einatmen.
Ein Alles.

(Ein Etwas, das sich in Worten nicht beschreiben lässt. Dies war ein Versuch in mehreren Anläufen. Daher auch steht oben im Text noch „heute“.)

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