Dienstag, 23. März 2010

beobachten - streulichtdurchwoben

Und wieder suche ich nach einem ersten Satz. Will endlich erzählen, welch Erleben diese Woche füllte, diese prallvolle Arbeitswoche, in der ich es ausprobierte: Ob es mir möglich sei, nicht wegzulaufen aus dem Augenblick, bewusst beobachtend in diesem und bei mir zu bleiben, obwohl um mich herum das Geschehen wirbelt und wirbelt und wirbelt.
Will eine Fortsetzung von diesem Text schreiben, und bleibe schon beim ersten Satz hängen. Noch eher: bei der Überschrift.

streulichtdurchwoben“ … stellt sich nach einiger Suche ein.
Streulicht, diffus, aus unsichtbarer Quelle, alle Seiten gleichermaßen benetzend, schattenfrei, gleichmäßig. Keine grellen Strahlen, keine mitreißende Lichtflut, keine blendenden Reflexe –wie ich sie sonst bei Licht wahrnehme. Nein, ganz anders: Licht als beruhigender, tragender Hintergrund, dessen Fäden sich zu einem Netz verdichten, den Raum füllend, ihn durchwebend.

Anders kann ich es nicht beschreiben, was in dieser Woche war.

Viel leichter fällt es mir zu erzählen, was alles nicht war.

Das Unglaubliche dieser Woche besteht für mich darin, dass kein einziges Mal ein „wenn doch nur dieser Tag / diese Woche bald vorbei wäre“ aufscheint. Ich stehe in meiner Überfülle an Pflichten und sehe einfach zu, wie sich Augenblick an Augenblick reiht. Auf all den äußeren Wegen – Schultage, Konferenzen, Fortbildungen, Kindertermine – kein Überdruss, kein Herauswünschen, keine Wochenendsehnsucht. Nur Dortsein, mittendrin. Keine gedankliche Flucht in Kommendes, in Gewesenes, durch die wir unsere Tage so oft zur Nichtlebenszeit werden lassen.

Ich erlebe Erstaunliches.
Es begibt sich zum Beispiel, dass ich auf einer Physikfortbildung sitze, mit all meinen Kollegen, und just als wir Experimente in Gruppen bearbeiten sollen, der Kollege sich neben mir befindet, mit dem ich dies am wenigsten zu tun wünsche. Der die Versuchsaufbauten auf meinem Experimentiertisch gern mit „Was machst Du denn da?“ (plus entsprechender Blick) oder „Wenn ich das sehe, wird mir schlecht.“ (plus Umschrauben meiner Stativkonstruktion) kommentiert. Mit diesem zusammen also soll ich jetzt ...
Unvorstellbar, wie anders ich die Situation an diesem Tag wahrnehme. Weniger weil ich miterlebe, dass er auch einen anderen Kollegen so behandelt (und dieser ist nicht jünger und nicht weiblich) – nein, das brauche ich nicht mehr als „Trost“. Ich lasse einfach zu was kommt: nicht am Versuchsaufbau beteiligt zu werden, abgestellt zu sein zum Werte-Notieren, Protokoll-Schreiben, Aufräumen, anschließend den kleinen Ergebnisvortrag der Gruppe halten zu müssen – ich lasse das zu und durch mich durch, ohne innere Empörung, ohne Aufruhr, ohne Widerstand: Es ist wie es ist. Er ist wie er ist. Es so zu sehen: eine Befreiung!
Ich vermute, ich kann mich fortan besser mit ihm arrangieren. Durchlässig sein für seine bislang verletzenden Kommentare – das bin nicht ich, die er meint – ihn so nehmen, und vielleicht noch ganz anderes wahrnehmen: Mir bewusst werden, dass er Kirchenmusiker ist, einen Chor leitet, eine wunderbare Frau hat (wie man sagt) – dadurch meinen Blick von seiner verletzenden Art weglenken. Die jetzt schon nicht mehr verletzend ist. Obwohl er sie – letzte Woche wieder – beibehalten hat.

Ich erlebe, wie ich mich in dieser Woche nicht aus meinem Jetzt herauswünsche.
Zwar spüre ich, dass Schultage, Fortbildungen, Gespräche zuweilen lang, zu lang für mich sind, doch begegne ich diesem nicht mit Widerstand. Lasse zu, dass es viel ist. Und wie von allein gleitet mein Blick in solchen Momenten weg aus dem Raum, aus dem Fenster, hinaus in den Wald. Absenz in der Präsenz. Ich sehe mich selbst wie aus der Vogelperspektive, fühle mich stimmig, versonnen, ein bisschen da und ein bisschen nicht da, gedanken- und wunschbefreit. --- Der Ruf eines Kollegen „Weck doch mal die Uta auf“ lässt mich lächeln: wenn die wüssten, wie wach ich in diesem Moment bin. Wach auf einer ganz anderen Ebene.
Und für das Hier und Jetzt wach genug, um mir die Stimmen aus der Entfernung jederzeit wieder herbeizuholen, in das Gespräch wieder einzusteigen. Wenn es wichtig wird – die Smalltalk-Partien lasse ich aus, bis wieder ein echtes Thema des Wegs kommt.
Mein Blick in die Ferne lässt mich nah bei mir bleiben, verbindet mich mit meinem Innen, macht das Mitfahren auf dem Karussell ungewohnt leicht.

Meine Sinneswahrnehmung in diesen Tagen ist sehr wach. Ich spüre Dinge auf, die mir sonst entgehen, an denen ich vorbeilebe. Nein, keine Nebensächlichkeiten, Elementares. Wie sich der Bauch, der Magen anfühlt, wenn ich ihn nach und nach fülle, in der Mensa. Dass ein Stuhl drückt und unbequem ist. Welch ungeheure Geräuschkulisse in einem Hörsaal herrscht. Wie blitzschnell, viel zu schnell, Bilder, Gesichter und Farben am Auge vorbeirasen, wenn ich im Zug oder Auto sitze. Wie viele Luftzüge, Gerüche, Temperaturen mich täglich streifen. Wie sich die Kleidung auf der Haut anfühlt, und wie das Wasser unter der Dusche. Die unterschiedliche Konsistenz des Essens, und sein Geschmack. Wie glatt sich das Papier, wie rau die Unterlage, wie klebrig der Tisch, wie wohlig sich der Besenstiel in der Hand anfühlt. Ein ungeheurer Sinnenerlebnisregen in jeder Minute, in der ich mich drauf einlasse. Ich bin fassungslos, was ich sonst verpasse, tagtäglich. Und spüre gleichzeitig, dass es viel zu viel ist, was unsere Art des Lebens in jeder Sekunde mit sich bringt. Ich muss mich aus dem Versuch einer All-Sinnes-Präsenz wieder zurückziehen, es überfordert mich …

Gedankenkreisen? Ja, auch das erlebe ich. Aufflammend in intensiven Gesprächen, aus Träumen heraus, mit der Post kommend oder einfach so. In verschiedene Richtungen sich erstreckend, mich in Sehnsucht, Enttäuschung, Erwartung, Schmerz, Hoffnung hinein ziehend. Doch ich will nicht. Ich will ganz bewusst nicht dorthin, in diese Emotionen, in diese kraftzehrenden. Spüre wie schwer, wie unmöglich das zuweilen ist.
Einiges deponiere ich in solchen Momenten auf Papier, so lässt sich das Kreisen abstellen. So lässt es sich entleert zurückkehren in den Frieden des Augenblicks.
Einiges schalte ich aus, ohne zu wissen, wohin es geflogen ist – kam es doch bisher nicht zurück.
Und das Bedrängendste, was mich in jenen Tagen ereilt, das gehe ich an. Es gibt in diesem Moment keinen anderen Weg. Gehe es an mit Tränen, mit Sprache, mit Mut, mit Öffnung, bis es sich leichter anfühlt. Bis es sich sogar auflöst. Ja, auch solches geschah in dieser Woche.
Habe ich also geschummelt, wenn ich doch aus dem Leben im Augenblick heraus schlüpfte, um Vergangenheits- mit Zukunftsfäden zu verknüpfen, um für anstehende Schritte ein Geländer mir zu gestalten? Nun, sei es so. Die zukunftsträchtigen Türen jedenfalls, die sich geöffnet haben, die gebe ich nicht mehr her …

Ich bewege mich sehr langsam in diesen Tagen, auch äußerlich. Realisiere, wie schnell manche Vorgänge in der Umgebung ablaufen, versuche mich nicht mitreißen zu lassen.
Ein einziges Mal bin ich kurz davor, aus der Ruhe geworfen zu werden. Morgens in der Kopiererschlange, als es schon geklingelt hat. Hinter mir reiht sich noch eine Kollegin ein. Ich bin dran und lege – nervös, Blick auf Uhr und wartende Kollegin – alles hektisch und verkehrt herum auf den Kopierer. Bis sie sanft einschreitet: „Wegen mir brauchst du dich nicht zu beeilen.“ --- Wie hatte ich bisher diese Frau übersehen können?! Die täglich in größter Gelassenheit durch den Schulalltag schreitet, sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt – und ich habe das immer nur unbewusst wahrgenommen. In diesem Moment spreche ich sie darauf an. Spiegele ihr, was ich in ihr sehe. Wir tauschen uns kurz aus, dass man üben müsse, lange üben müsse … ein kurzer Dialog, der mich wieder in meine Ruhe zurückversetzt. Und der das Glück einer wirklichen Begegnung in sich trägt.

Viele kleine Dinge geschehen in dieser Woche: Erlebnisse, die manchmal wie Steine unseren Weg zu blockieren scheinen, verlieren ihre Macht, wenn ich sie durch mich hindurch lasse.
Wenn ich in der fremden Schule, ein Neubau, nicht – den Kollegen gleich – voller Neid, Empörung,fruchtlosem Wunschträumen auf die großzügigen Flure schaue (die, würde man von ihnen eine Reihe Klassenzimmer abtrennen, immer noch breiter als unsere wären), sondern einfach wahrnehme: hier weit und licht, bei uns eng und dunkel. Hier so, bei uns so.
Wenn ich, als Mitte der Woche die drei Briefe im Kasten liegen und ich sofort Bescheid weiß, nicht in Zorn und Gram verfalle, nicht mich über mich selbst ärgere. Sondern den Bibliotheksbesuch in einen Zeitspalt quetsche, die Reisetasche voller überfälliger Bücher hinschleppe und einfach zahle, pro Buch nen Euro. Es ist wie es ist. Keine weitere Energie darauf verschwenden.
Vieles noch. Ich staune, wie viel Energie im Alltag verloren geht, widmet man sich mit – falscher – Hingabe solchen Anlässen. Ich staune, wie ich dies in der Woche umgehe. Ohne dass es besonders schwierig ist – das ist das Erstaunlichste. Das Befreiendste.


Ja, lauter „nicht“s bringe ich aus dieser Woche mit. So vieles gab es nicht. Es schrieb sich ganz einfach Punkt für Punkt nieder. Noch im Nachhinein stellt sich mir ein Gefühl einer Befreiung ein. Als ob ein Käfig sich geweitet hätte.
Warum aber sind da keine „ja“s, keine „stattdessen“s? Warum kann ich nicht schreiben: da war …
Nun gut, Sinneseindrücke waren, das schrieb ich. Das Gefühl der Befreiung von Bewertung, Gegensatz, Widerstand war, das schrieb ich. In diesen Tagen waren lauter „und“s: aneinandergereihte Augenblicke, wie Perlen auf eine Schnur gefädelt. Die Rotation des äußeren Lebens war nicht im Gegensatz zur inneren Stille, sondern in einem „und“ mit ihr vereint.

Sollte ich dies aber in Worte fassen, wollte ich es Wachheit, Frieden, Ruhe, Präsenz, lichte Freude, irgendwie so benennen, bemerke ich: das ist bloßes Wortwerk, trifft nicht, was ich erlebte.
Ich suche und suche nach besseren Worten, formuliere in Gedanken herum, verwerfe, und --- finde: nichts. Keine Worte, keine Sätze, keine Gedanken, kein Aussprechbares.
Als wenn alles, was in mich flutete, statt der sonstigen Tageslasten, unterhalb eines jeden Wortgrunds sich befände, unsagbarer als alle Sätze, flüchtiger als alle Gedanken wäre.
Ein Äther. (Von dem die Physiker nachgewiesen haben, dass es ihn nicht gibt. Aber was wissen die schon :))

Es war wie es war. Es war gut. Streulichtdurchwoben.

3 Kommentare:

  1. Danke. Mehr Worte find ich jetzt nicht.

    sonniggelbe Frühlingsgrüsse

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  2. der text ist rund- schon
    allein durch die streulichterwähnung!

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  3. Was für eine Beschreibung ... Ich bin völlig gefangen davon, wie sehr du dich auf die Achtsamkeit einlassen konntest. Es liest sich so leicht, wie es mir selber leider oft nicht fällt. Immer wieder nehme ich es mir vor, vor allem die Wertfreiheit, aber rutsche weg ins Unbewusste, vergesse wieder, durchlässig zu sein und nur wahrnehmen und teilnehmen zu wollen.
    Aber die Momente, in denen ich ganz achtsam bin, die sind reine Lebendigkeit. So wie du es bei deiner Skiabfahrt beschrieben hast, erlebe ich es beim Berggehen in felsigem Gelände. Ganz und gar anwesend.

    Danke für dein Teilen und die Erinnerung :-)

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