Dienstag, 15. Dezember 2009

Verlerntes lernen

Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in der indischen Stadt Benares. Ich war zutiefst erschüttert und entsetzt. Ich wurde Zeuge größter Schmerzen, des Hungers und unverhüllten Sterbens. In einer langen Prozession wurden unaufhörlich Leichen durch die belebten Straßen zum heiligen Fluß Ganges getragen. Die Menschen beobachteten das eindrucksvolle Ritual der öffentlichen Einäscherung. Am Straßenrand saßen Krüppel, Aussätzige und Bettler. Als ich mich von meinem ersten Schock erholt hatte, sah ich plötzlich Mütter, die mit leuchtenden Augen ihre lächelnden Kinder säugten. Ich sah das freundliche Lächeln auf den Gesichtern alter Männer und Frauen, die ungehemmte Freude von Knaben und Mädchen, die die Straßen entlang liefen, und einen vergeistigten Ausdruck von Frieden und Gelassenheit auf den Gesichtern der Menschen, wie ich es bis dahin noch nie erlebt hatte. Was ich hier sah, war das ganze Panorama des Lebens – niemand versuchte, etwas zu verbergen. Mir wurde plötzlich klar, wie behütet und abgeschirmt ich bisher gelebt hatte. Die meisten Menschen im Westen leben ihre wirkliche Existenz fast ausschließlich hinter geschlossenen Fenstern und Türen. Wir weinen allein, wir müssen allein mit unseren Krankheiten fertig werden, wir werden allein geboren, und die meisten von uns sterben in irgendeinem sterilen Krankenhauszimmer, allein. Wie können wir den natürlichen Lebenszyklus kennen oder annehmen, wenn er vor uns so versteckt wird? Wie können wir jemals etwas darüber erfahren? Wie können wir ihn jemals annehmen?
Wenn wir den Tod einfach als einen weiteren Aspekt des Lebenszyklus annehmen können, werden wir jede Begegnung im Leben schätzen und als wertvoll erkennen und wissen, daß sie sich nie wiederholen wird. Und jeder dieser Augenblicke wird für uns zur Quelle dessen, was unser Leben ausmacht.
Der Tod ist in diesem Leben unser größter Lehrer. Nur die Unwissenden und die, die Angst vor dem Leben haben, fürchten ihn. Die Weisen akzeptieren den Tod als ihren vertrauten Freund und verständnisvollsten Lehrer. Um als Persönlichkeit ein aktives und erfülltes Leben zu führen, müssen wir den Tod als unseren Freund betrachten, der uns durch das ganze Leben begleitet.

(L. Buscaglia)




Ja, was haben wir nicht alles verlernt
– gegenüber der Wachheit, die den Menschen in Armuts-, Kriegs-, Pest- und Unglückszeiten abgefordert wird,
– gegenüber der demütigen Hingabe, die eine Mutter leben muss, wenn ihr alljährlich ein Kind vom schmutzigen Wasser stirbt.
Nein, ich bin nicht undankbar, dass wir genug zu essen und noch weit mehr haben, dass hier kein Krieg tobt, dass viele von uns in Frieden alt werden dürfen. Genauso wenig möchte ich solche Zeiten auch nur im Mindesten verklären.

Nur:
Wie schwer ist es, in diesem wohlbehüteten Wohlstandsleben unser Leben im Sinne eines wirklichen Wohls zu gestalten!
Wie groß ist die Gefahr, zu schlafen, dumpf und blind vor sich hin zu leben, sich in Scheinsicherheit zu wägen, einer fremdgesteuerten Geschäftigkeit zu erliegen, seinen Alltag irgendwelchen angeblich vernünftigen Regeln zu unterwerfen, nichtssagend vor sich hin zu treiben.

Wie leicht vergessen wir dabei, dass das hiesige Leben

im täglichen Geborenwerden
in allumfassender Liebe
im jederzeit möglichen Sterben

besteht. Und dass dieses alles Eines ist.

Wir haben verlernt, strahlend unser über alles geliebtes Kind im Angesicht des Todes zu stillen. Wie viel können wir von diesen indischen Frauen lernen ...

Wenn wir das, welchem wir alle auf der Spur sind, auch mit ganz verschiedenen Worten benennen:
den Himmel in sich aufspüren
ganz in seine Mitte hinein finden
im Hier und Jetzt die Ewigkeit leben
aufwachen
sich mitten hinein stellen
sich vor Gott im Vertrauen verbeugen
zum Geist erwachen
Meinen wir damit nicht alle das Gleiche? Das nämlich, was diese strahlenden, stillenden Frauen uns vorleben ...

2 Kommentare:

  1. liebe uta,

    ich kann dir nur zustimmen.
    ich dürfte, was diese dinge angeht, etliches von den bürgerkriegsflüchtlingen lernen!

    danke auch für dieses text, der in seiner kürze so viel aussagt.

    liebe grüße
    heike

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  2. Liebe Uta

    Auch ich danke dir sehr!

    Manche Jahre durfte ich in meiner damaligen Wohngemeinde Teil einer Gruppe Menschen sein, die mit Trägern aller christlichen Konfessionen der Gemeinde im Hintergrund, sich der damaligen "Asylanten" annahmen.
    Ich habe durch das Teilnehmen an ihren Schicksalen so viel über die Welt, über mich selbst eigentlich, gelernt, es waren für mein "Weg finden" sehr wichtige, lehrreiche Jahre.

    Mit einem lieben Gruss in die Nacht

    Christina

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