Mittwoch, 20. August 2014

Tag 12: Gartz - Lebehn


die Tochter wacht lange vor dem Frühstück auf – vor Aufregung? – und ist ganz hibbelig vor Losfahrenwollen – dieses zieht sich aber, weil wir uns erst arrangieren müssen: alles Gepäck muss nun in zwei Taschen gestopft werden, worauf mein Rad hinten überlastig ist, sich vorn aufbäumt und wieder mal vom Wind umgeworfen wird, dann klappert was bei der Tochter und aus Solidarität auch gleich bei mir, dann fällt die Flasche vom Gepäckträger, dann verrutscht der Rucksack, dann lockert sich die Schnalle, dann ordnen wir nochmal um, dann muss der Pullover aus, dann muss er an, dann kommt der erste Durst, dann die erste Schautafel, und dann auch schon die erste Guck- und Fotopause
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ja, Schautafeln: sie liest ALLES, was am Wegesrand geschrieben steht, wir verpassen garantiert nie mehr wieder den Weg, wissen jetzt alles über Niederauen und eiszeitliche Geländeformung, sie könnte bestimmt noch die Namen aller vorbeigekommenen Pensionen, Gasthäuser, Firmen aufzählen, saugt den gesamten Wegesrand auf: Tiere, Pflanzen, Licht, Windgerüche, Menschenblicke – Nachholen von zwei Wochen Nichtdabeigewesensein, so scheint mir --- als wir nach nur wenigen Kilometern von der Oder abbiegen, verabschiedet sie sich genauso innig vom Fluss wie ich es tue (und hat schon vor mir und für mich ausgerechnet, wie lange ich jetzt hier entlang gefahren bin)
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und überhaupt: wie zwei Kinder sooo unterschiedlich sein können – ich könnte jetzt eine lange Liste aufzählen, was mir allein am ersten Tag alles auffiel – welch ein Kontrast – unglaublich!
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wo sind denn all die anderen Radfahrer hin? bisher war der Weg gut beradelt, in beiden Richtungen – heute treffen wir kaum eine Seele --- vielleicht umfährt man diese Strecke mit ihren Hügeln und extremen Gegenwinden besser auf der polnischen Seite, bleibt also gemütlich am Fluss, und nur wir haben von der Komfortvariante nichts mitbekommen?
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ja, extremer Wind (hier in Norddeutschland mag man es „frische Brise“ nennen, für uns ist das fast ein Sturm), ein harter Starttag für die Tochter: zuweilen, wenn es dazu noch bergauf geht, schieben wir vor lauter Nichtmehrkönnen --- ich versichere ihr, dass das beim Radfahren nicht immer so sei – noch glaubt sie mir und bleibt guter Dinge --- in einer dieser windigen Situationen ihr O-Ton: „Man, bei dem Wind müsste mir die Rotze eigentlich zurück in die Nase laufen.“
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Energiezufuhr: dreimal braucht sie tagsüber warme Würstchen – soviel isst sie sonst in einer Woche --- weil wir abends mal wieder in einem Dorf ohne Essen bleiben und auch sonst nicht viel verkauft wird in diesen Dörfern (wovon leben denn die Leute hier?), nutze ich am Mittag den letzten Lebensmittelladen vor dem Ziel und plündere mal prophylaktisch: nun fährt mein Fahrrad morgen also auch noch all das Essen spazieren, was wir heute dann doch nicht geschafft haben
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ansonsten aber: perfekte Bleibe, mitten auf einem bewirtschafteten Bauernhof, seit wir hier sind, bestaunen wir das Hofleben aus Luken und Dachfenstern (seit wir hier sind nämlich regnet es, daher verschieben wir den Hofrundgang auf den Morgen) – und die Ferienwohnung ist so groß, dass ich nachher erstmal suchen muss, in welchem Eck und in welchem Bett sich das Kind schlafen gelegt hat
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ein paar Höhepunktsmomente noch: auf einer stürmischen Kuppe stehen, mitten unter riesigen Windrädern, und die gewaltigen Kräfte hören, sehen, fühlen --- ein Freilichtmuseum zum Leben im Mittelalter erkunden, Hütte für Hütte, Handwerk für Handwerk --- an kleinen Seen kurz absteigen, weil es in dem Schilf dort so riecht und rauscht, wie es an Seen in Mecklenburg schon immer riecht und rauscht --- abends bei den letzten Fahrradtritten den Tag sich schlafenlegen fühlen – der Wind kommt zur Ruhe, es wird still, so still, wir hören nur noch uns selbst atmen – doch dann bricht von hinten die Gewitterfront durch und entlädt sich mit Urgewalt

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