Dienstag, 18. Mai 2010

Wenn man 18 ist ...

… und der Vater stirbt,
dann erzählt man das nicht unbedingt in der Schule herum,
dann teilt man es höchstens der Klassenlehrerin in einem knappen Satz mit, aber erst, nachdem die Formalitäten der Geschichtsprüfung besprochen wurden,
dann brauchen die anderen Lehrer das nicht zu erfahren – „wobei: ist auch schon egal, morgen steht es eh in der Zeitung“,
dann lacht und albert man mit seinen Mitschülern, stärker noch als in den Wochen zuvor, da der Vater „nur“ im Sterben lag,
dann möchte man auf keinen Fall fehlen, keine Klausur versäumen, nein nein, das „geht schon“,
dann geht man auch am Vormittag der Beisetzung noch in die Schule – es ist „kein Problem, klar komme ich da“,
dann ist es einem „peinlich“, wenn einem vor der Lehrerin ein paar Tränen aus dem Auge rollen,
dann sitzt man zwar etwas stiller im Unterricht, etwas versunkener, aber man hebt trotzdem hin und wieder die Hand,
ja, dann wirkt man eigentlich ganz normal. Man lässt sich nichts anmerken …

Wenn man 18 ist …
… und der Vater des Freundes, des Mitschülers stirbt,
dann ist man geschockt, fassungslos, schmerzlich berührt, dann tut es unglaublich weh,
dann möchte man so gern etwas tun, doch weiß nicht was,
dann wundert man sich, warum der J. so unerwartet fröhlich ist: „das ist doch komisch?!“,
dann wirft man eine liebe Karte heimlich in der Nacht ein, weil der J. das in der Schule doch sicher nicht will,
dann ist man als bester Freund unsicher, ob man zur Beisetzung gehen solle, weil das dem J. vielleicht gar nicht recht ist,
dann weiß man so vieles nicht, traut sich aber nicht, den J. danach zu fragen,
dann steht man schließlich doch auf der Trauerfeier, sich selbst fremd im schwarzen Anzug, unbeholfen, nicht wissend, ob man an diesem Ort seine Lehrerin durch ein Lächeln begrüßen darf – nein, besser hier nicht lächeln …

Es waren intensive Tage mit meinen Zwölftklässlern. So viele Gespräche, wichtige Augenblicksbegegnungen, Fragen, Schweigen, Unsicherheit, gemeinsame Tränen auf dem Schulflur … So viel wahres Leben, das der Tod uns mit seinem plötzlichen Hereinbrechen in die Schule gebracht hat.
Auf manche der „ich weiß nicht“s der Schüler kann ich, können wir, die Erwachsenen, den jungen Menschen keine Antwort geben. Sie werden selbst danach suchen müssen, vielleicht ihr Leben lang.
Bei manchen „ich weiß nicht“s konnten wir ihnen die Unsicherheit nehmen. Konnten sie ermutigen, ihm, dem J., das zu schenken, was ihnen von Herzen wichtig ist: eine Karte, ein Buch, einen Brief, eine CD, ihr Teilnehmen auf der Trauerfeier, einen Blick, ein Gesprächsangebot, um ihm zu zeigen, dass sie an ihn denken. Auch wenn der J. sich “komisch” verhält.
Vielleicht hat er, der J., spüren dürfen, dass wir ihn und seine Trauer wahrnehmen, hier bei uns in der Schule. Mehr können wir nicht tun für ihn …



Eine Stunde in der letzten Woche ist mir eindrücklich in Erinnerung. Auf dem Schulflur organisieren wir das gemeinsame Geschenk der Jahrgangsstufe, im Raum rechnet mein Kurs gedämpft vor sich hin, mittendrin sitzt J.
Irgendwann trete ich wieder ein, muss weitermachen, das neue Thema – „lineare Unabhängigkeit“ – beginnen. Es erscheint mir so fern wie nur irgendwas.
Wie von außen beobachte ich mich selbst, höre mich reden, wozu dieses geometrische Konzept dient, wo es sinnvoll anzuwenden ist, welche Grundvorstellung darin schlummert … ich erzähle und erzähle, viel mehr als sonst, als ob eine Geschichte aus mir heraus komme. Mathematik zwar, aber irgendwie noch etwas Anderes. Schreibe nichts an die Tafel, schaue immer nur die Schüler an, bin selbst verwundert.

Es wird eine neue Dimension aufgespannt” – ist es dieser Satz, den ich mich sagen höre, oder die gebannt zu mir schauenden Schüleraugen, oder die Stimmung im Raum, die uns heute verbundener denn je sein lässt, oder meine Stimme, zwischen deren Zeilen wohl alles Unsagbare durchscheint – ich weiß es nicht. Ich kann nicht erklären, was in diesem Moment geschieht.
Ich stehe wie inmitten einer neu verknüpften Einheit von unserem Mathematikstoff und dem Anderen, Unsagbaren. Zwischen mir und den Schülern scheint eine neue Tiefendimension des Miteinanders, ein neues gegenseitiges Wahrnehmen eröffnet. Eine neue Art der Begegnung, die nicht nur aus nicht verwirklichten Möglichkeiten besteht (wie ich sie in der Schule täglich zu Hunderten erlebe), sondern eine Begegnungswirklichkeit ist.
Ja, Begegnung als Wirklichkeit, in diesen Minuten. (Ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben soll.)

Weil die Lebenswirklichkeit in Gestalt des Todes zu uns in die Schule gekommen ist, weil sie uns durchlässig gemacht hat, uns alle. Deswegen durften wir wirklich zusammenfinden, für diesen kurzen Moment. Wie dankbar ich bin, solches erlebt zu haben.

3 Kommentare:

  1. Mein Beileid für J.

    Und dir ein Danke! Ein Danke im Namen deiner SchülerInnen.

    Es gibt nichts Schlimmeres, als einen Trauerfall totzuschweigen. :-( Und die Unsicherheit aller Menschen drumrum.

    Ich bin mir sicher, alle Schüler, J. und die anderen, haben bei dir mehr als l.u. gelernt.

    Viele Grüße, Kat

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  2. Danke, liebe Uta, dass Du uns teilhaben lässt. Der Tod kann soviel lebendig werden lassen. Es ist gut, dass in Eurer Schule Raum und Zeit dafür da sind!

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  3. Ganz viele deiner Beiträge berühren mich innen. Dieser hier ganz besonders (auch mir kullerten ein paar Tränen runter).

    Ich finde deinen Blick auf die Menschen so wunderschön und liebevoll. Du bist immer neugierig und so offen, dass alles passieren kann und nicht immer nur das Gleiche, sondern Neues, weil du es rein lässt. Danke für all das, was ich mit dir erfahren darf.

    Ein Lächeln durch die Lande bis nach Italien ... auf irgendeine Weise kommt es an.
    Constanze

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