Jedermann weiß, dass es gute und schlechte Lehrer gibt. Und dass diese Klassifizierung nicht nur böswillig von Schülern und deren Eltern erdacht wurde, ist auch kein Geheimnis. Es gibt einfach Menschen, die – aus was für Gründen auch immer – offenbar nicht im richtigen Beruf gelandet sind. Und dort nun eben sind.
Einen solchen Kollegen habe ich auch. Immerzu gibt es über ihn Beschwerden, jeder weiß darum, Eltern und Schüler erzählen mir ungefragt (
und ich winke immer ganz schnell ab, weil ich dies gar nicht hören mag), dass Herr X nicht erklären könne, dass sein Unterricht schlecht sei, dass man bei ihm nichts verstehe und dergleichen. Dass mit ihm kein leichtes Kooperieren ist, und dass Organisation und Strukturierung nicht gerade zu seinen Stärken zählen, das ist mir bei unserer versuchten Zusammenarbeit selbst aufgefallen. Und doch habe ich ihn immer als sehr freundlichen, höflichen Kollegen erlebt.
Nun, sein schlechter Ruf ist ja eigentlich nicht meine Angelegenheit. Beziehungsweise war es bis vor kurzem nicht – bis ich mich in den Ferien vor die Aufgabe gestellt sah, die Mathekurse der künftigen 12er einzuteilen. Da saß ich also mit den Schülerlisten, mit den vier Lehrernamen, und wusste genau, dass ich nun über Schicksale entscheide. Jedenfalls im Kleinen: über Mathenoten, über Glück oder Unglück in dem einen Fach. Entsprechend unbehaglich fühlte ich mich, entsprechend lange schob ich die Aufteilung vor mir her. Keinesfalls wollte ich ungerecht sein, keinesfalls jemanden bevorzugen, andere benachteiligen. Es lief auf ein Zufallsverfahren hinaus: Listen ausgedruckt, Schüler nach 1-2-3 abgezählt, Lehrernamen den Zahlen zugelost – und dann gleich bei der Schulleitung abgegeben, was sich als Aufteilung ergeben hatte. Lieber nicht genauer nachschauen, wer es dabei gut und wer hart getroffen hatte … dachte ich mir.
Es kam wie es kommen musste: Es hagelte Proteste, ziemliche Proteste. Einige Schüler beantragten, dass sie den Kurs wechseln dürften. Nicht mehr mein Problem, dachte ich, soll das die Schulleitung entscheiden. Und das tat sie auch, indem sie genau zwei Anträge (von mehreren) bewilligte. Leichtes Kopfschütteln bei mir (
warum gerade diese zwei –und ist das nicht ungerecht gegenüber allen anderen?), größeres Kopfschütteln bei der betroffenen Kollegin, die jetzt zwei Schüler mehr im Kurs hat, aber Genaueres zu diesem Vorgang wollte ich gar nicht wissen.
Glücklicherweise weiß ich wirklich nichts Genaueres, denn das hätte mir die gestrige Situation noch erschwert. Steht nämlich plötzlich Herr X vor mir, unsicher lächelnd, sein Blick ein einziges Fragezeichen, und spricht mich auf die beiden „geflüchteten“ Schülerinnen an. Ob ich wüsste warum, ich hätte doch vorher die Kurse eingeteilt, und ihm habe niemand etwas von einem Kurswechsel gesagt. Er habe es heute zufällig von anderen Schülern erfahren.
WIE BITTE??? ZUFÄLLIG???
Warum lässt man diese Information denn hintenherum zu ihm dringen?
Warum bitte hat die Schulleitung ihn nicht direkt informiert?
Und wie er da so traurig-unsicher vor mir steht, weiß ich überhaupt nicht was ich sagen soll. Na klar, irgendetwas scheint nicht rund zu laufen in seinem Unterricht – so viel, so flächendeckendes Schülerempfinden kann nicht irren. Also könnte ich denken „
selbst schuld“. Denke ich aber nicht, in dem Moment. Denn:
Irgendwie scheint er es selbst nicht zu merken, oder er weiß wenigstens nicht, wie aus diesem höchst unbefriedigenden Zustand herauskommen.
Irgendwie ist es ihm wohl nicht gegeben, die Inhalte unseres Fachs Kindern weiterzuvermitteln.
Irgendwie landete er dennoch in diesem Beruf.
Irgendwie hatte niemand am Anfang seines beruflichen Werdegangs den Mut, ihn davon abzubringen.
Irgendwie funktioniert unser Berufsbeamtentum nun mal so, dass er nicht kündbar ist, nicht versetzt werden kann.
Irgendwie muss er ja seine Familie ernähren.
Irgendwie ist er in diesem Beruf in ein Alter gekommen, dass ihm andere Wege nun nicht mehr offen stehen.
Oh je. Er tut mir leid, wie ich ihn so vor mir stehen sehe. Blankes Mitleid. Denn noch nie habe ich so deutlich sehen können, wie gut er um seine Situation weiß und wie schmerzhaft das für ihn selbst ist.
Keine Ahnung, wie man ihm helfen könnte. Überhaupt: ich, die um 10 Jahre Jüngere, fühle mich sowieso nicht berechtigt, ihn daraufhin anzusprechen, geschweige denn, meine kollegiale Hilfe anzubieten. Ohnehin erlebte ich ihn bisher als wenig kompromissfähig, als eher stur, so dass jeglicher Versuch, unseren Unterrichtsgang aufeinander abzustimmen, von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Ich weiß, dass er sich an unseren gegenseitigen kollegialen Hospitationen nicht beteiligen wird, weil ihm dazu der Mut fehlt. Ich vermute, dass sich an seinem Unterricht nichts ändern wird, niemals. Ich ahne, dass er bis an das Ende seiner beruflichen Tage dieses Misserfolgs- und Versagenserleben wird ertragen müssen.
In mir ist Mitleid für diesen Mann, wie er da so geknickt vor mir steht. Mitleid - oder was sonst???
PS.
Ich weiß nicht, ob ich genauso empfinden würde, wäre Herr X der Lehrer eines meiner Kinder. Ich weiß genauso wenig, wie ich auf Dauer meine Sichtweise als Lehrerin und die als Schulkind-Mutter werde vereinbaren können, sind dies doch zwei Rollen, die in unserem allseits mängelbehafteten Schulsystem fast zwangsläufig zur Kollision führen müssen. Ich bereite mich also innerlich darauf vor, mit einem Spagat zu leben: Je älter meine eigenen Kinder werden, umso deutlicher wird mir die „andere Seite“ des Systems vor Augen geführt werden.
Was tun? Versuchen, zwischen beiden Seiten, beiden Sichtweisen zu vermitteln … zunächst im Innern das Verständnis für alle Seiten zu bewahren. Und dann vielleicht im Äußeren, soweit mein winziger Wirkungskreis dies zulässt.
Nur: Was hieße das jetzt konkret bei unserem traurigen Herrn X und seinen unglücklichen Schülern???