Montag, 19. Oktober 2009

Freitagskonferenz

Nun habe ich ein Wochenende lang versucht mich zu beruhigen, habe die Erlebnisse von letzter Woche absinken lassen, habe in mir Hoffnung und Vertrauen auf einen guten Ausgang vorgefunden – und möchte doch hier nochmals vom Freitag erzählen. Möchte herauslassen, was mich und uns so aufwühlte. Beruhigt bin ich noch lange nicht, sind wir nicht, können wir nicht sein, angesichts dessen, was wir auf der Freitagskonferenz erfuhren.

Konferieren“ – zusammentragen, austauschen – ist nicht das passende Wort für das, was wir Lehrer dieser einen Klasse da taten. Wir trugen nichts zusammen, wir tauschten nichts aus, jedenfalls nicht im konferenz-üblichen Sinne. Wir bekamen nur mitgeteilt, von der Klassenlehrerin und vom Krisenteam. Austauschen konnten wir nur unsere Sorgen, unsere Rat- und Hilflosigkeit. Wenn es manchmal auch wohltuend sein kann, sich in einer Gruppe eingebettet zu wissen, die am gleichen Problem trägt, so empfand ich es hier eher als noch beunruhigender. Wünschte mir, dass mich jemand an seine große Hand nähme und mir ein "Alles wird gut" schenkte ...

Mitgeteilt bekamen wir,
dass Gefahr A und Gefahr S im Raum schweben,
dass die Experten der Polizei nach Gesprächen mit dem Mädchen, seinen Eltern und der Klasse zu der Auffassung gekommen seien, dass Gefahr S als nicht unerheblich, Gefahr A dagegen als etwas geringer einzuschätzen sei,
dass das Mädchen weiterhin die Schule besuchen wird, da die Eltern keinerlei Veranlassung sehen irgendetwas zu unternehmen - denn "Kinder sagen so etwas eben einfach mal dahin." (O-Ton Vater, der muss es ja wissen)

Nicht mitgeteilt bekamen wir,
was man sich unter „etwas geringer als nicht unerheblich“ vorzustellen hat,
wie die Experten nach den Gesprächen eines lächerlich kurzen Vormittags zu solch gravierenden Einschätzungen kommen können – ein sehr zweifelhaftes Expertentum,
ob wir Gefahr S verstärken, wenn wir die Schülerin vom weiteren Schulbesuch ausschließen, um die anderen Schüler nicht Gefahr A auszusetzen,
wie wir handeln sollten, wenn sie plötzlich mitten im Unterricht ...

Und dann brach es aus einem Kollegen heraus, mitten in die angespannte, nervöse Atmosphäre hinein, warum wir uns denn eigentlich diesen Schuh anziehen müssten. Dass wir doch das Kind gar nicht schützen könnten, vor sich selbst, und die anderen Schüler schon gar nicht. Und dass wir, wenn wir sie nun ohne Unterlass beaufsichtigen (was wir tun müssen – alles andere wäre grob fahrlässig), die Verzweiflung in ihrer Seele nur noch vergrößern werden. Warum denn bitte nicht die Eltern ihre Verantwortung wahrnehmen und dem Kind professionelle Hilfe zuteil werden lassen.
Weil wir sie nicht zwingen können. (Immerhin, die Polizei hat das Jugendamt eingeschaltet, damit dieses eventuell Zwangsmaßnahmen gegen die Entscheidungshoheit der Eltern ergreift. Nur: das dauert ein paar Tage, und solange ...) Puh!
Wir haben diesen Schuh nunmal an, auch wenn er uns nicht passt. Das Kind kommt zu uns, auch heute wieder. Und wir fühlen uns verantwortlich dafür, dass keine der beiden Gefahren Realität wird. Auch wenn wir diese Verantwortung eigentlich gar nicht tragen können ...
Deswegen ist auch die Polizei heute wieder im Haus (die Präsenz grüner Uniformen im Schulhaus hat nicht gerade beruhigende Wirkung, kann ich euch sagen ...).

Oh, bitte ...
Ich möchte nicht, dass wir das miterleben müssen.
Ich möchte nicht in der Haut der Kinder dieser Klasse stecken – insbesondere nicht des Kindes, was sich hat anhören müssen „und wenn ich Amok laufe, wirst du die erste sein“. Ich möchte auch nicht in der Haut der Mütter dieser Kinder stecken.
Ich möchte nicht der Lehrer sein, der den Raum betritt, wenn sie auf dem Fensterbrett steht, im dritten Stock (wie zweimal geschehen in der letzten Woche) – und ich ertappte mich schon bei dem Gedanken der Erleichterung, weil ich sie im Erdgeschoss unterrichte.
Ich möchte nicht mit meiner Schulleitung tauschen, die sich in noch viel stärkerer Weise verantwortlich fühlen muss für alles, was jetzt geschieht.
Ich bin gerade froh darum, nicht die Klassenlehrerin dieses Mädchens zu sein, die all die aufkommende Panik bei Schülern und Eltern im Zaum halten muss.
Ich hoffe so so, dass nichts geschieht - nicht bei mir im Unterricht, und nicht bei einem Kollegen. So sehr ich mir meine Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten nüchtern versuche im Voraus zu überlegen, so hilflos fühle ich mich allein schon bei dem bloßen Gedanken, was täte ich wenn .... Wir üben das nicht, haben das noch nie durchgespielt, so wie man Feueralarm regelmäßig übt ...

Oh, bitte:
Ich möchte überhaupt nicht, dass etwas geschieht.

Ich möchte, dass wir alle aus diesem Alptraum aufwachen dürfen. Dass die Eltern ihr Kind endlich ernstnehmen und vor seinem Problem nicht länger die Augen verschließen.
Mein Gott, sie haben ihr Kind vor vielen Jahren liebend in Empfang genommen auf dieser Welt, sie haben ihm einen wunderschönen Namen mitgegeben auf seinen Weg, und nun ... was mag in all den Jahren mit dieser jungen Seele geschehen sein ...


Ach ja: Vor kurzem hatte ich Sorge, dass mich mein hektischer Schulalltag auffrisst, dass ich aufgesogen werde von seinem geschäftigen Treiben, welches oft oberflächlich ist, oft mit dem wahren Leben nicht allzuviel zu tun hat, wir mir schien.
Oh mein Gott: So viel wahres Leben in der Schule habe ich nun auch wieder nicht gewollt – so hatte ich mir das nicht vorgestellt!

6 Kommentare:

  1. Offensichtlich wissen die Verantwortlichen nicht, wie man das Familiengericht einschaltet, wenn die Eltern ihre Verantwortlichkeiten nicht wahrnehmen. So was dauert nämlich in einem solchen Fall nicht "ein paar Tage", sondern nur, wenn man das "ein paar Tage" dauern läßt.

    Wenn ein Fall von Selbst- bzw. Fremdgefährdung vorliegt, dann geht das mit der Zwangseinweisung ganz schnell, und zwar nicht, dass jemand weggesperrt wird, sondern damit geholfen werden kann.

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  2. Ähm, ich weiß nicht, wer sich hinter "anonym" verbirgt und ich weiß nicht, woher Sie dieses Wissen beziehen. Ich kann auch nur das wiedergeben, worüber wir informiert werden, im Moment alle paar Stunden per Mail, denn bei den diversen Gesprächen sind wir natürlich nicht dabei. Fakt ist, dass seit dem Einschalten der Kriminalpolizei am Donnerstag die Handlungsgewalt nicht mehr bei der Schule/Schulleitung, sondern bei der Kripo liegt. Die ist also seitdem verantwortlich für alle Schritte - so ist das im Notfallplan für Schulen vorgesehen. Und die Kripo sieht eben keinen Anlass zur besonderen Besorgnis und für weitere Maßnahmen. So ist das.
    Weil uns das zu wenig vorkam, haben wir uns am Freitag zusammengesetzt. Wer da noch welche Dinge in die Wege geleitet und unternommen hat, gehört nicht hierher. Jedenfalls hat von unserer Seite aus niemand etwas "ein paar Tage" oder auch nur eine Stunde "dauern" lassen. Wie gesagt, was sich da zwischen Polizei und Jugendamt abspielt, entzieht sich unserer Kenntnis, und es ist für alle Seiten eine beklemmende Situation. Wir hoffen auf einen guten Ausgang ...

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  3. ach uta, auf deinen schultern lastet gerade so vieles, habe ich den eindruck.
    ich hoffe sehr, dass hier alles gut ausgeht und das mädchen in behandlung kommt. das darf doch alles nicht wahr sein...

    ich denke an dich, heike

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  4. Ich verstehe nicht, warum die Schule qua "Notfallplan" alle Handlungsmöglichkeiten aus der Hand gibt an Kripo und Jugendamt.
    Was ist das für eine Botschaft an die Schülerin: Mein Vater darf gewähren. Niemand kann eingreifen und etwas für mich tun.

    Wenn eine Schülerin sich auf das Fensterbrett stellt und einen Sui.zid androht / ankündigt und es wird keine Hilfe geholt, dann erweckt das schon den Eindruck, daß Hilfe verzögert wird.

    Es ist ein Spiel mit Macht / Ohnmacht. Wie ich schon an anderer Stelle mal bemerkt habe: Supervision für Lehrer!

    Wer eigentlich hilft und unterstützt denn jetzt die Lehrpersonen, die mit dieser Situation umgehen müssen?

    Viel Kraft Ihnen und allen Beteiligten.

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  5. Die Schule hat keine Wahl: Polizei eingeschaltet heißt, die übernimmt das Zepter, so wie bei Auslösen des Feueralarms die Feuerwehr die Anweigungen gibt. Ist ja eigentlich klar, dass es in Krisensituationen nur einer der Herr sein sollte. So besagen es die Dienstanweisungen des Regierungspräsidiums - und das wird doch an anderen Institutionen sicherlich ähnlich sein.
    Und wie gesagt: Wir haben unverzüglich immer alle Hilfe geholt, die in diesen Situationen zur Verfügung steht. Also schon beim ersten Fensterbrett gab es Gespräche mit den Eltern und es war die Polizei im Haus, winkten aber beide ab.
    Es gilt wie so oft: Das System krankt! Wenn wir z.B. bei einem Kind das Jugendamt einschalten, muss dieses uns hinterher keinerlei Auskunft über den Stand der Dinge geben - aus Persönlichkeitsschutz für das Kind. Nur: wir sollen hinterher mit dem Kind wieder arbeiten. Absurd.
    Oder: Es gibt noch keine konkreten Handlungsanweisungen für den Am.ok.fall, auch nicht nach Winnenden. Wir sind nicht geschult, wir üben das nicht, wir dürfen uns unsere Handlungen dann selbst überlegen ...
    Das alles hat mit Supervision erstmal nichts zu tun. Ich kann immer nur wieder sagen: Es krankt und schwächelt an allen Ecken und Enden im Schulsystem.

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  6. Liebe Uta,

    ich hoffe sehr für euch, das alles im Guten endet und dem Mädchen schnell geholfen werden kann. Was sind das nur für Eltern, die diesen Hilferuf, dieses auf-das Fensterbrett-stellen nicht ernst nehmen? Dem Jugendamt traue ich leider nicht viel zu. Hört man nicht viel zu oft, das trotz Jugendamts-einschaltung Kinder misshandelt werden, sogar sterben müssen? Das Amt ist viel zu überlastet um allem immer zeitnah nachgehen zu können, setzten manchmal vielleicht auch die Prioritäten falsch, verharmlosen viel zu oft. Aber kann man die Eltern nicht mehr in die Pflicht nehmen? Was ist das für eine kranke Gesellschaft wenn die Eltern da so fein aus der Sache rauskommen? Ihr Lehrer müsst nun mit einer sehr großen Last auf den Schultern und einem Haufen Sorgen den Schulalltag bewältigen, werdet das Geschehene natürlich auch in Gedanken jeden Tag mit nach Hause nehmen, und die Eltern geht alles nichts an? Ich verstehe das alles nicht.
    Das Mädchen tut mir so sehr leid, warum versteht sie niemand? Wie muss es ihr wohl gerade gehen, wie kann sie diese Situation aushalten?
    Ich wünsche ihr einen Engel an ihre Seite, der sie auf ihrem Weg begleitet und das sie alles schadlos übersteht.

    Liebe Grüße
    Rina

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